Franziska Simon war drei Jahre lang am Goethe-Institut Ukraine Vertreterin der Abteilung »Kooperation und Aufträge Dritter« des Goethe-Instituts in der Region Osteuropa und Zentralasien, die vor allen Dingen EU-Projekte in der Region begleitet. Seit dem 1. Juni 2023 leitet sie nun das Programm »House of Europe«, das auf vielfältige Weise die ukrainische Kultur- und Kreativwirtschaft unterstützt und sich auch für den Schutz des kulturellen Erbes einsetzt. Im Interview mit Patrick Wildermann erzählt sie, wie diese Arbeit unter den Bedingungen des Krieges konkret aussieht.

Patrick Wildermann: Auf welchem Gründungsgedanken fußt das »House of Europe« – und wie ist es aufgestellt?

Franziska Simon: Das Programm »House of Europe« besteht seit 2019 und wurde damals ausgehandelt zwischen der EU-Delegation Ukraine und dem Goethe-Institut. Es ist nach wie vor das größte EU-Projekt im Kulturbereich, das jemals außerhalb der Europäischen Union aufgelegt wurde. Gestartet ist es im April 2019 mit einem Budget von rund 12 Millionen Euro mit dem Ziel, die Ukraine mit Gegenübern in der EU zu vernetzen, die ukrainische Kultur- und Kreativwirtschaft sichtbar zu machen – und damit letztlich den EU-Annäherungsprozess der Ukraine zu unterstützen. In der ersten Projektphase waren Partnerorganisationen wie der British Council, das Institut français, das Czech Centres oder der Zusammenschluss der europäischen Kulturinstitute EUNIC an der Umsetzung beteiligt. Auch in der zweiten Phase wird eng mit EUNIC zusammengearbeitet. Geleitet wird das Programm vom Goethe-Institut.

Wie hat der Krieg sich auf das Projekt ausgewirkt?

Die Ziele sind die gleichen geblieben, aber durch den vollumfänglichen Angriffskrieg Russlands seit dem 24. Februar 2022 haben sich natürlich die Prioritäten etwas verschoben. Wir haben ziemlich schnell ein sogenanntes »War Response Package« gestartet, für das wir Gelder in Absprache mit der EU umwidmen konnten – gut 1,5 Millionen Euro unseres Budgets haben wir für direkte Nothilfe verwendet. Sei es, um Hilfsgüter für die medizinische Versorgung bereitzustellen oder Kultureinrichtungen wie Museen dabei zu unterstützen, ihre Kunstwerke zu retten. Insgesamt konnten wir über 400 Einzelpersonen, 94 Organisationen und 35 Museen direkt unterstützen. Und natürlich hat sich vor Ort in der Ukraine einiges dadurch verändert, dass Kolleginnen und Kollegen teilweise fliehen mussten. Dennoch ist es uns gelungen, selbst unter diesen schwierigen Bedingungen fast nahtlos weiterzuarbeiten – was vor allen Dingen ein Verdienst der ukrainischen Kolleginnen und Kollegen ist, die kontinuierlich weitergearbeitet haben, selbst aus dem Bunker heraus.

Welche Programme umfasst das »House of Europe«?

Es gibt verschiedene Stränge unserer Arbeit. Zum einen leiten wir Mittel an ukrainische Kulturschaffende weiter, in Form von Einzelstipendien für Projekte oder als Mittel für Mobilität, also für Reisen in EU-Staaten, um Kontakte zu knüpfen. Dann gibt es Programme für Organisationen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Beispielsweise können sich Verlage aus der Ukraine, aber auch aus EU-Mitgliedstaaten mit Übersetzungsvorhaben bewerben. Erstmals haben wir jetzt auch große Infrastrukturprojekte für ukrainische Kulturinstitutionen ausgeschrieben, die bis zu 100.000 Euro bekommen können, um Wiederaufbauarbeit zu leisten. Ein weiterer wichtiger Strang ist das Capacity Building, also der Aufbau von Wissen und Fertigkeiten, z. B. mit unseren Digital Labs.

Wir vernetzen dabei unter einem bestimmten Thema ukrainische Kulturschaffende mit europäischen Partnern. Die Kulturschaffenden hören Vorträge, können Ideen pitchen oder ein Projekt vorstellen, sie bekommen Feedback und am Ende vielleicht auch eine Anschubfinanzierung. Darüber hinaus bietet das »House of Europe« eine sogenannte »Knowledge Library«, in der sich ukrainische Kulturschaffende auch über andere Fördermöglichkeiten informieren können, die uns zugespielt werden. Durch soziale Medien und die Programme, die wir bisher umgesetzt haben, besitzen wir eine große Reichweite in der Ukraine, die wir auch auf diese Weise einsetzen.

Richtet sich »House of Europe« ausschließlich an Kulturschaffende in der Ukraine – oder auch an diejenigen, die ins Ausland geflüchtet sind?

Ein Ziel ist, der ukrainischen Kunst- und Kulturszene auch außerhalb des Landes zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, z. B. über internationale Kooperationsprojekte. Aber der Schwerpunkt unseres Programms liegt auf der Arbeit in der Ukraine, wir wollen in erster Linie Menschen und Projekte vor Ort unterstützen. Nicht nur in den großen Städten, sondern im gesamten Land. In der ersten Phase haben wir bereits Festivals in verschiedenen Regionen der Ukraine veranstaltet, es wurden Pop-up-Hubs aufgebaut, es gab Seminare und kulturelle Veranstaltungen, wir haben Förder- und Weiterbildungsmöglichkeiten aufgezeigt. Daran wollen wir weiter anknüpfen.

Führt Russland in der Ukraine auch einen Krieg gegen die Kultur?

Auf jeden Fall. Es ist erklärtes Ziel Russlands, die ukrainische Kultur auszulöschen, beziehungsweise ihr überhaupt die eigenständige Existenz abzusprechen. Nicht nur wird gezielt zivile Infrastruktur angegriffen, sondern auch kulturelle Einrichtungen sind im Visier. Es wurden schon früh in diesem Angriffskrieg die Denkmäler ukrainischer Dichter zerstört, es gab Diebstähle aus Museen. »House of Europe« ist ein Projekt, das genau diesem russischen Krieg gegen die ukrainische Kultur etwas entgegensetzt. Durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms ist nun wiederum ukrainisches kulturelles Erbe bedroht.

Was ist konkret betroffen?

Wir unterstützen z. B. in der Region Cherson ein Projekt, das sich mit Ausgrabungen beschäftigt. Olena Afanasieva, die Leiterin des Kulturentwicklungszentrums »Totem«, hat hier zusammen mit Kolleginnen und Kollegen des Kulturzentrums »Ukraine – Litauen« in den vergangenen sechs Jahren am historischen Gedächtnis der Region geforscht. Speziell in der Ortschaft Tyagin, wo die Ruinen von Befestigungsanlagen aus der Zeit der Kämpfe gegen das Osmanische Reich im 15. Jahrhundert existieren. Bei dem Projekt ging es darum zu zeigen, welche hoch entwickelten Kulturen es dort schon lange vor dem russischen Imperium gab. Durch die Sprengung des Staudamms ist in der Region jetzt alles überschwemmt, teilweise zerstört.

Was unternimmt »House of Europe« zum Schutz des kulturellen Erbes?

In Bezug auf das greifbare Erbe in Gestalt von Artefakten haben wir mit dem »War Response Package« beispielsweise Museen dabei unterstützt, Kulturgegenstände zu sichern und an andere Orte zu transportieren. Aktuell in der Vorbereitung ist auch ein Digital Lab für Restauratorinnen und Restauratoren, bei dem es darum gehen soll, wie beschädigte Gebäude wieder instand gesetzt werden können, welche Techniken der Restaurierung es gibt, aber auch, wie man Gebäude umbaut zu Schutzräumen. Wir veranstalten zudem in Kürze einen Hatathon, das setzt sich zusammen aus dem ukrainischen Wort »hata« für Haus und Marathon, zum Thema Digitalisierung von Kulturerbe, das ukrainische Kulturschaffende mit Menschen aus dem Tech-Bereich zusammenbringen und vernetzen soll. Auch Digitalisierung ist eine Möglichkeit, die kulturelle Identität zu erhalten.

»House of Europe« hat unter anderem auch eine Kooperation mit dem Streaminganbieter Netflix vereinbart – worum geht es dabei?

Wir haben bereits zum zweiten Mal ein Förderpaket mit Netflix ausgehandelt, das ukrainischen Filmschaffenden eine Art Stipendium mit einem Betrag von 1.000 Euro pro Person bietet – für kleine Produktionen als Beitrag zu ihrem Portfolio, oder auch um Ausrüstung zu ersetzen, die sie aufgrund des Krieges verloren haben. Außerdem können Filmschaffende sich für digitale Workshops bewerben, die Netflix zu bestimmten Aspekten des Filmemachens mit Expertinnen und Experten anbietet – etwa zu Aspekten der Postproduktion, oder ganz grundsätzlich als Hilfestellung zum Einstieg ins Filmbusiness. Die ersten 100 Personen, die diese Einzelförderung erhalten, haben wir gerade ausgewählt.

Unter welchen Bedingungen findet Kultur in der Ukraine gegenwärtig statt?
So wie ich es mitbekomme, findet selbst in den Teilen des Landes, in denen wirklich katastrophale Zustände herrschen, Kultur statt. Es gibt Theater- und Opernaufführungen, die wie in Kyjiw teilweise von Bombenalarm unterbrochen, aber danach fortgesetzt werden. Teilweise organisieren Musikerinnen und Musiker Konzerte in Schutzräumen. Es ist wichtig für die Menschen in der Ukraine, wenigstens für kurze Zeit in eine andere Welt eintauchen zu können. Mich beeindruckt auch, wie viele digitale Veranstaltungen stattfinden, z. B. von Theatern mit Partnern außerhalb der Ukraine organisiert. Das zeigt den Widerstand einer Kultur- und Kreativszene, die wir gerade jetzt weiter unterstützen müssen.

Welche Perspektive hat »House of Europe«?

Das Projekt ist erst einmal bis Ende 2024 befristet, wir hoffen natürlich, dass es danach weitergehen kann. »House of Europe« ist nach vier Jahren sehr bekannt in der Ukraine und innerhalb der europäischen Institutionen, wir sind ein großes, engagiertes Team, das mittlerweile eingespielt ist, sei es bezüglich der Weiterleitung von Mitteln, oder der Konzeption von Veranstaltungen, Workshops oder Diskussionen. Es wäre fatal, wenn diese Struktur nicht weiter bestehen würde. Wir hoffen daher sehr, dass wir weitere Finanzierungen erhalten werden.

Bedeutet der Angriffskrieg einen Rückschlag für das Ziel, die Ukraine näher an die EU zu bringen?

Es war schon vorher das Ziel der Ukraine, der EU beizutreten. Das Ziel von »House of Europe« bleibt es, diesen Prozess zu unterstützen. Ich denke, dass der Angriffskrieg das Zugehörigkeitsgefühl des Landes zu Europa noch verstärkt hat – und dass vor allem bei den Menschen außerhalb der Ukraine erst wirklich ins Bewusstsein gedrungen ist, dass die Ukraine zu Europa gehört.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2023.