Das Kreuz auf dem litauischen Truppenübungsplatz Pabrade ist schlicht. Es erinnert an Adrian Rohn, Oberstabsgefreiter der Bundeswehr.

Seit Frühjahr 2017 befehligt die Bundeswehr in Litauen einen Gefechtsverband zum Schutz der NATO-Ostgrenze. Am 6. Oktober 2018 führte dieser ein Manöver durch. Im Rahmen der Übung verunglückte Rohn. Der Bergepanzer, den er mit geöffneter Luke steuerte, kollidierte mit einer Kiefer. Ein schwerer Ast stürzte herab. Die Kopfverletzung des Oberstabsgefreiten war tödlich. Adrian Rohn wurde 34 Jahre alt.

Aus den Bruchstücken des Astes fertigten seine Kameradinnen und Kameraden das Kreuz zum Gedenken an den Toten. Darüber hinaus tauften sie ihren litauischen Stützpunkt »Camp Adrian Rohn«.

Adrian Rohn ist einer von mehr als 3.300 Soldatinnen und Soldaten, die seit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 ihr Leben im Dienst verloren haben. Bei Unfällen und Havarien, bei Anschlägen, Attentaten oder in Gefechten. Doch was bleibt von Adrian Rohn? Und all den anderen getöteten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr? Soll man, muss man ihrer öffentlich gedenken? Sie dauerhaft würdigen?

Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist geprägt von einer großen Distanz zu den Toten der Bundeswehr. Jahrzehntelang versagte sie ihnen sogar jegliches offizielle Gedenken. Denn von neuen toten Soldaten wollte nach 1945 kaum jemand hören.

Sogar in der Bundeswehr wurde der Tod lange verdrängt. Wolf Graf von Baudissin, eine ihrer Gründungsfiguren, marginalisierte den Soldatentod einfach zur »Nebenfolge« des Berufs. Diese erstaunliche Überzeugung eines ranghohen Militärs prägte lange das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den Opfern der Bundeswehr. Und so entfiel die Notwendigkeit, einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden.

Als im Juni 1957 in Bayern 15 Rekruten in der reißenden Strömung der Iller ertranken, existierte kein verbindliches Trauerzeremoniell für die Opfer. Bis Anfang der 2000er Jahre erfasste die Bundeswehr ihre Toten noch nicht einmal statistisch. Ganz zu schweigen von einer offiziellen und öffentlichen Würdigung. »Institutionelle Amnesie« – so beschrieben Kritiker diesen beschämenden Zustand.

Der Umgang mit den toten Soldaten änderte sich erst mit Beginn der internationalen Auslandsmissionen ab 1992. Mit einem Mal fanden sich Bundeswehrsoldaten wieder in Krisengebieten und militärischen Konflikten. Sie mussten kämpfen, töten – und auch sterben.

Vor allem der Einsatz in Afghanistan ab 2002 zwang die Bundeswehr, sich dem Soldatentod neu zu stellen. 2010 sprach mit Karl Theodor zu Guttenberg erstmals ein deutscher Verteidigungsminister offen von Krieg in Afghanistan. Aus gutem Grund. In keinem anderen Auslandseinsatz der Bundeswehr starben so viele Soldaten. Bis zum Ende der Mission am 29. Juni 2021 verloren 59 Bundeswehrsoldaten ihr Leben, 35 davon durch Fremdeinwirkung, also bei Kampfhandlungen oder durch Anschläge.

Der kriegerischen Realität am Hindukusch wurde der Umgang der Bundeswehr mit ihren Toten immer weniger gerecht. Bei den Soldatinnen und Soldaten wuchs der Unmut darüber, und sie begannen, auf eigene Art ihrer toten Kameraden zu gedenken. In den Feldlagern Afghanistans gestalteten sie persönliche Stätten der Erinnerung, individuelle Orte der Trauer. Sogenannte Ehrenhaine. Mit Findlingen und Marmorplatten, mit Steinwällen und Ziegelmauern, mit Holzkreuzen und Namenstafeln. Und manchmal auch mit Trümmern militärischen Geräts, übersät mit Spuren von Kämpfen. Es war ein sehr privater Totenkult mit einfachen Grundelementen und oft emotionalen Symbolen.

Der erste Ehrenhain entstand 2005 im Camp Warehouse in Kabul. Viele weitere folgten.

Nicht zuletzt Camp Warehouse führte Verteidigungsminister Franz Josef Jung 2005 vor Augen, dass auch die Bundeswehr, ja dass Deutschland einen offiziellen und öffentlichen, einen repräsentativen und zentralen Ort der Würdigung schaffen muss. Noch auf dem Rückflug des Ministers von Kabul nach Deutschland fiel die Entscheidung für den Bau des Ehrenmals der Bundeswehr.

2009 weihte Jung dieses Ehrenmal auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums in Berlin ein. Gewidmet »Den Toten unserer Bundeswehr für Frieden, Recht und Freiheit«.

Das Ehrenmal erhebt sich im Außenhof des Bendlerblocks, gestaltet als rechteckiger Körper aus Stahlbetonsegmenten. Den riegelartig wirkenden Bau umhüllt eine filigrane Haut aus Bronze. In diese Metallschicht sind Aussparungen gestanzt, die sich gleich den Zeichen einer Schrift zu Zeilen reihen. Die gelochten Zeichen, sie ähneln ganzen oder halben Erkennungsmarken von Soldaten, codieren den Text des Soldatengelöbnisses.

Die Architektur des Ehrenmals spielt mit Licht und Raum, mit Grenzen, Sinnbildern und religiösen Erfahrungen. Im Inneren des Baus nennt ein Band aus Licht in endloser Abfolge die Namen der Toten. Wie schwebend erscheinen die Namen im Raum. Teil der Metallhaut des Ehrenmals ist das Buch des Gedenkens: 20 Bronzeplatten mit den Namen der mehr als 3.300 Bundeswehrangehörigen, die im Dienst ihr Leben verloren haben.

Jungs Entscheidung für das Ehrenmal bedeutete das Ende des öffentlichen Schweigens über tote Bundeswehrsoldaten. Und sie ebnete den Weg für neue Formen militärischer und gesellschaftlicher Formen der Trauer und des Gedenkens.

Seit 2008 richtet die Bundeswehr für im Einsatz gefallene Soldaten öffentliche Trauerfeiern aus, wie z. B. Messen mit Würdenträgern und Politikern an den Heimatstandorten der Toten. 2009 schuf sie zudem das Institut des Ehrengrabs der Bundeswehr. Seit 2014 ergänzt überdies der Wald der Erinnerung das Berliner Ehrenmal. Die Idee geht zurück auf den Wunsch von Hinterbliebenen sowie Kameradinnen und Kameraden, die Ehrenhaine aus Afghanistan und vom Balkan dauerhaft zu bewahren. Der Wald der Erinnerung liegt etwa fünf Kilometer westlich von Potsdam. Dabei steht der Wald für eine Art des Weiterlebens, verkörpert im Kreislauf der Natur. Die Ehrenhaine gruppieren sich um einen Weg, der den Wald durchschneidet. Zwischen ihnen erheben sich steinerne Stelen, welche die Namen und die Missionen der getöteten Soldatinnen und Soldaten nennen. Armbänder, Patches oder Barettabzeichen schmücken sie, und an den Todestagen findet man dort weiße Blüten. Die umliegenden Bäume haben Hinterbliebene in eigene Gedenkorte verwandelt. Durch Zeichnungen und Handabdrücke, Briefe, Tafeln, Laternen. Auf diese Weise wird der Wald der Erinnerung zur Stätte der Besinnung, der persönlichen Trauer und der Erinnerung.

Besonders lange suchten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach einer angemessenen Würdigung der Toten der Auslandseinsätze. Erst 2020 fanden sie mit der sogenannten Gedenkstele eine Form. Diese steht vor dem Sitzungssaal des Verteidigungsausschusses im Paul-Löbe-Haus. Als Mahnung dafür, dass parlamentarische Entscheidungen Soldatenleben kosten können.

In ihrer Gestalt ist die Stele einem aufgeschlagenen Gedenkbuch nachempfunden. Über dem schwarzen, schreinartigen Eisenkörper scheint ein Monitor zu schweben. Per Touchscreen lassen sich die Namen der toten Soldatinnen und Soldaten finden, ihre Geburts- und die Todestage sowie die Missionen, bei denen sie starben.

Seit einigen Jahren tragen auch Angehörige der Bundeswehr, ehemalige und aktive, die Erinnerung an ihre toten Kameradinnen und Kameraden in die Öffentlichkeit. Drei Beispiele: Unter dem Motto »Der leere Stuhl« rufen sie seit 2017 dazu auf, Weihnachten an privaten Tafeln symbolisch einen Platz für einen toten Angehörigen der Bundeswehr freizuhalten, einzudecken und anschließend Fotos der Aktion zu posten.

2018 startete erstmals der Marsch zum Gedenken. Er nimmt im brandenburgischen Lehnin seinen Ausgang und führt nach Berlin, wo er nach 119 Kilometern am Ehrenmal der Bundeswehr endet. Die 119 Kilometer repräsentieren dabei die 116 bislang im Auslandseinsatz Getöteten, die zusätzlichen drei Kilometer sollen summarisch die etwa 3.300 Toten der Bundeswehr würdigen.

Seit 2020 erinnert in Deutschland auch ein Platz an einen gefallenen Bundeswehrsoldaten: Martin Augustyniak, der 2010 in Afghanistan starb. Beinahe wäre das Projekt in Augustyniaks Heimatstadt Bielefeld gescheitert. Denn Soldatengedenken im öffentlichen Raum stößt bei manchen auf Ablehnung. Man wolle »keinen Heldengedenkplatz«, ist dann zu hören.

Lange konnte die Gesellschaft der Bundesrepublik verdrängen, dass Soldatensein bedeutet: zu kämpfen. Zu töten. Und auch zu sterben. Das machte vor allem der Afghanistaneinsatz sichtbar. Genauso wie das Fehlen einer öffentlichen Ehrung toter Soldatinnen und Soldaten. Denn wer im Auftrag für sein Land sein Leben riskiert, der verdient im Fall des Todes eine angemessene Würdigung und einen dauerhaften Platz im kollektiven Gedächtnis.

Der Wald der Erinnerung und das Ehrenmal der Bundeswehr mögen die Toten vor dem völligen Vergessen bewahren. Für eine breite Öffentlichkeit und für die vielschichtige Gedenkkultur der Bundesrepublik aber spielen Soldaten wie Adrian Rohn nur eine marginale Rolle. Immerhin – der Anfang ist gemacht. Der Anfang in einem Prozess, der eben erst begonnen hat.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.