Gedenktage sind Lebewesen. Sie werden geboren, wachsen auf, werden groß, dann beginnen sie zu altern, irgendwann sterben sie. Doch im Unterschied zu anderen Organismen haben Gedenktage die Chance, sich in eine andere Gestalt zu verwandeln, neue Aufgaben zu übernehmen und so weiterzuleben. Es stellt sich die Frage, wie es mit dem Volkstrauertag weitergehen wird.

Der Volkstrauertag verdankt sich staatlichen Entscheidungen. 1952 wurde er durch Parlamentsbeschluss in Westdeutschland auf Anregung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wieder eingeführt. Damit wurde eine Tradition aus der Weimarer Republik aufgenommen. 1922 wurde im nun tatsächlich demokratischen Reichstag eine Feier begangen, bei der der vielen Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Drei Jahre später wurde daraus ein Volkstrauertag, der allerdings aus mancherlei politischen Gründen kein gesetzlicher Feiertag war. Er wurde auf den ersten Sonntag der Passionszeit, den Sonntag »Invocavit«, gelegt, später auf den Sonntag »Reminiszere«, der fünf Wochen vor Ostern liegt. Diese Tradition wurde in der jungen Bundesrepublik aufgenommen. Allerdings wurde ein anderer Termin gewählt, nämlich der vorletzte Sonntag vor dem Advent. Durch beide Daten ergaben sich innige Verbindungen zur christlichen Fest- und Gedenkkultur: der Passionszeit oder den »stillen Tagen« – dem katholischen Allerheiligen, dem evangelischen Buß- und Bettag und dem Toten- bzw. Ewigkeitssonntag.

In der Weimarer Republik war der Volkstrauertag unvermeidlicherweise ein Kristallisationspunkt politischer Konflikte. Einer Einigung der geschlagenen Nation in gemeinsamer Trauer vermochte er kaum zu dienen. Rechte Kräfte versuchten ihn für ihre Propaganda gegen den Versailler Vertrag zu nutzen. Er war wenig geeignet, den Frieden zu fördern oder auch der Gefallenen anderer Nationen oder der zivilen Opfer zu gedenken. Linken galt er als »Kriegshetzertag«. In diesem Sinne benannte die NS-Diktatur ihn 1934 in »Heldengedenktag« um. Nicht mehr die Trauer sollte jetzt den Ton setzen, sondern eine emotionale Aufrüstung. Aus »still« wurde »laut«. 1939 gab die Diktatur, durchaus konsequent, die Verbindung mit kirchlicher Passionsfrömmigkeit auf und verlegte den »Heldengedenktag« auf den Jahrestag der Wiedereinführung der Wehrpflicht, den 16. März.

Mit dieser Instrumentalisierung des Totengedenkens wollte die junge Bundesrepublik brechen und auf den Ursprungsgedanken eines stillen Tages zurückkehren, an dem das Volk gemeinsam trauerte – nicht nur um die eigenen Gefallenen, sondern auch um die Toten anderer Völker. Dennoch blieb auch hier der Volkstrauertag nicht frei von Konflikten. Denn es musste geklärt werden, wie stark die Trauer mit einer Einsicht in die Kriegsgründe und die Kritik militaristischer Gesinnung verbunden sein sollte. Hier kam es nicht erst in den 1970er und 1980er Jahren zu intensiven Debatten zwischen Vertretern der zunehmend antimilitaristisch eingestellten evangelischen Kirche und anderen Akteuren. Zudem erweiterte sich Schritt für Schritt der Blick: Nicht nur der eigenen Gefallenen, sondern immer mehr auch der verschiedensten Opfergruppen der NS-Diktatur sollte gedacht werden.

Man kann darin durchaus einen besonderen Sinn und Nutzen des Volkstrauertags sehen: Dieser Ritus brachte sehr unterschiedliche Akteure zusammen und nötigte sie zur Auseinandersetzung. Gemeinsam mussten sie die Inhalte und Formen des Gedenkens bestimmen. Welche Rolle sollte die Bundeswehr spielen? Wie sollte sie auftreten, in Reih und Glied, bewaffnet? Welche Rolle sollten die Kirchen spielen? Sollte die Kranzlegung mit einem Gottesdienst verbunden oder beides getrennt sein? Sollten nur Politiker und staatliche Amtsträger sprechen? Sollte die Zivilgesellschaft beteiligt werden? Und wie?

Debatten über solche Fragen waren beim »Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors und Kampftags gegen Faschismus und imperialistischen Krieg« nicht erwünscht, der von 1952 bis 1990 in der DDR begangen wurde, immer am zweiten September. Hier war die ideologische Ausrichtung des Gedenkens eindeutig festgelegt.

Inzwischen hat der Volkstrauertag erheblich an Bedeutung verloren. Das liegt daran, dass die unmittelbar Trauernden – die Witwen und Waisen, die Geschwister und Freunde der gefallenen Soldaten – selbst gestorben sind. Dafür haben andere Tage, wie z. B. der 27. Januar mit der Erinnerung an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, gedenkkulturelle Funktionen des Volkstrauertages übernommen.

Ein anderer Faktor ist die bisherige Gestaltung: Eine zentrale Gedenkfeier im Bundestag, eine Rede des Bundespräsidenten und Kranzniederlegungen in Friedhöfen oder anderen Gedenkorten sind nicht geeignet, viele Menschen Anteil nehmen zu lassen. Da sind die Kirchen im Vorteil, die das Totengedenken in einem Gemeindegottesdienst begehen können. Deshalb stellen sich heute umso dringlicher die Fragen, in welchen Formen die Zivilgesellschaft an der Gestaltung beteiligt werden kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.