Verdrängte Erinnerung: Der Sozialwissenschaftler und Hamburger Mäzen Jan Philipp Reemtsma spricht mit Ludwig Greven über die Verbrechen der Wehrmacht, historische Wahrheiten und das gebrochene Verhältnis der Deutschen zum Militärischen.

 

Ludwig Greven: Herr Reemtsma, weshalb hat die von Ihrem Hamburger Institut für Sozialforschung organisierte Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« in den 1990er Jahren und in der Neuauflage Anfang der 2000er Jahre so viel Aufsehen erregt, obwohl die wesentlichen Fakten zur Beteiligung der Wehrmacht an den Gräueln der Nazis und der Shoah eigentlich längst bekannt waren?

Jan Philipp Reemtsma: Die »wesentlichen Fakten« waren eben nicht bekannt – jedenfalls nicht in einer weiten Öffentlichkeit.

 

Es gab heftige Proteste gegen die Ausstellung – weil sie den Vorhang vom Bild der angeblich »sauberen« Wehrmacht riss?

Man hielt in Teilen der Öffentlichkeit die Ausstellung für verleumderisch.

 

Warum konnte sich dieses Bild so lange halten, nicht nur bei ehemaligen Wehrmachtssoldaten, obwohl die es ja zumindest in Teilen hätten besser wissen müssen?

Weil Verleugnen bequemer ist – und weil es keine zureichend wahrgenommenen Gegendarstellungen gab.

 

War Vergessen und Verdrängen womöglich notwendig, damit die Soldaten und Offiziere, die Mittäter und Mitwisser überhaupt weiterleben konnten?

Das Nachkriegszusammenleben war angenehmer, wenn dieses Thema keine Rolle spielte.

 

Gilt das auch für die junge bundesrepublikanische Gesellschaft insgesamt? Das war damals die Linie der Adenauer-Regierung. Selbst Theodor Heuss hat seinerzeit – wie man jetzt in einer neuen Studie lesen kann – gesagt, das alles sei »vorbei«.

Ja.

 

Kann es nach einem solchen schrecklichen Vernichtungskrieg überhaupt eine von vielen geteilte gemeinsame Erinnerung geben?

»Erinnerung« ist in diesem Falle ein – wenn auch dauernd verwendetes – unpassendes Wort. Es geht um historische Wahrheit.

 

In der DDR wurde die NS-Vergangenheit nie aufgearbeitet, sondern auf die Bundesrepublik abgeschoben. Trägt diese Geschichtsblindheit dazu bei, dass die AfD im Osten so stark ist?

Das stimmt nicht! In der DDR war vieles allgemein bekannt, das in der BRD kaum thematisiert wurde.

 

In Spanien hat es nach dem Ende der Franco-Zeit auch Jahrzehnte gedauert, bis die Verbrechen des Bürgerkriegs und der Diktatur angegangen wurden. In Chile ähnlich. In Russland ist die Stalin-Ära bis heute nicht aufgearbeitet. Können das alles erst nachfolgende Generationen?

Wenn etwas ist, wie es ist, folgt daraus nicht, dass es so kommen musste.

 

Haben Sie für sich eine Antwort auf die oft gestellte Frage gefunden, wie ganz normale Deutsche zu Rädern einer monströsen Mordmaschine und selbst Mörder werden konnten?

Gegenfrage: Wer soll es denn sonst machen? Keine Diktatur, keine Gewaltherrschaft hat jemals ein Personalproblem gehabt.

 

Trägt die Erklärung auch für die Hamas-Terroristen, die die schlimmsten Massaker an Juden seit der Shoah verübt haben?

Da gibt es nichts zu »erklären«. Die Hamas tut, was sie angekündigt hat zu tun: Juden zu töten.

 

Die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« wurde in vielen Städten gezeigt, Millionen haben sie gesehen. Hat sie das Erinnern an den Weltkrieg und das Bild der Wehrmacht nachhaltig verändert?

Ja. Man spricht nach 1995 nicht mehr über die Wehrmacht so, wie man es gewohnt war zu tun.

 

Die Deutschen, sagt man, seien durch die von Deutschland ausgelösten beiden Weltkriege für alle Zeiten zu Pazifisten geworden. Ist das nicht hinderlich in einer Welt und einer Zeit, die erneut durch kriegerische Auseinandersetzungen geprägt ist wie gegen die Ukraine und nun Israel?

Sagt man das? Haben Sie das Gefühl, dass nach dem Einmarsch in die Ukraine in den Medien dauernd pazifistische Statements zu hören sind?

 

Die Bundeswehr hat sich an den Kriegen gegen Serbien und in Afghanistan beteiligt. Dennoch fremdeln bis heute viele mit einer auch militärischen Rolle Deutschlands. Liegt das im Wesentlichen an der deutschen Vergangenheit?

Das liegt an dem verlorenen Krieg, der keinen Heroismus übrig ließ.

 

Andere Nationen, besonders die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, erinnern sich auch an heroische Erfolge ihrer Armeen. Ist es gut, dass den Deutschen, jedenfalls der sehr großen Mehrheit, jede Erinnerung an glorreiche Schlachten vergangen ist?

Ja. Aber dass seitens der USA, Großbritanniens und Frankreichs des D-Day gedacht wird, ist richtig. Und die Deutschen sollten dies auch tun mit Dankbarkeit und Anteilnahme. Sie verdanken dem Tag ihre Freiheit.

 

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.