Dem Nachhall der Geschichte kann niemand entkommen. Nur wer sich seiner Vergangenheit bewusst ist, kann die Gegenwart bewältigen und ist für die Aufgaben von morgen gerüstet. Erst die Kenntnis geschichtlicher Hintergründe ermöglicht es, im Heute verantwortlich zu handeln. Staatsbürgerliches Verhalten setzt also Geschichtsbewusstsein voraus – nicht nur in der Bundeswehr.

Mit ihrer Tradition überliefert und pflegt die Bundeswehr die Erinnerung an ausgewählte Ereignisse, Personen, Institutionen und Prinzipien aus der Gesamtheit der deutschen Militärgeschichte, sofern diese vorbildlich und richtungsweisend für ihren heutigen Auftrag wirken. Die Aneignung von Traditionen bedingt stets eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte, an deren Ende dann eine Identifizierung und Identitätsbildung stehen kann. Das Erbe der deutschen Militärgeschichte ist jedoch widersprüchlich. Die Bundeswehr stellt sich dieser Geschichte in seiner Gesamtheit und weicht diesem mitunter schwierigen Erbe nicht aus. Tradition ist jedoch nicht Geschichte, sondern die bewusste und absichtsvolle Auswahl aus ihr.

Im Frühjahr 2018 hat die Bundeswehr zum dritten Male nach 1965 und 1982 Vorgaben für ihr Traditionsverständnis und für die Traditionspflege erhalten. Die Tradition der Bundeswehr ist ein wesentlicher Teil ihres Selbstverständnisses. Sie verbindet die Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Angehörigen der Bundeswehr mit den Generationen, die vor ihnen dienten, und sie gewährleistet, dass prägende Lehren und Vorbilder nicht vergessen werden. Tradition gleicht so einem sinnstiftenden Kompass auf dem Weg in die Zukunft. Damit die Kompassnadel auch verlässlich die Richtung weist, benötigt die Bundeswehr zweierlei: Klarheit darüber, welchem Verständnis von Tradition sie folgen will, und Handlungssicherheit in der praktischen Traditionspflege. In einer Welt, die geprägt ist von zunehmenden Ungewissheiten und rasch aufeinanderfolgenden Veränderungsprozessen, sind feste Bezugspunkte von umso größerer Bedeutung.

Tradition bildet sich in einem ständigen schöpferischen Prozess wertorientierter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Damit entzieht es sich jedem Versuch, sie in einem Erlass verbindlich fixieren und umfassend darstellen zu wollen. Dennoch benötigt die Truppe klare Vorgaben und einen geistigen Abholpunkt für die Traditionspflege. Ältere Militärtraditionen können und sollen nicht nahtlos und ungeprüft von der Bundeswehr übernommen werden. Orientierung zu geben und Handlungssicherheit zu schaffen ist daher die bei Weitem wichtigste Aufgabe des aktuellen Traditionserlasses, einem knappen Dokument von wenigen Seiten. Er enthält keine ausführliche Beschreibung konkreter Traditionsinhalte und auch keine Liste mit Traditionsnamen. Vielmehr setzt der Erlass einen Rahmen, in dem sich die Angehörigen der Bundeswehr ihre Tradition selbst wählen. Diese Handlungsfreiheit der Truppe entspricht der Konzeption der Inneren Führung und seinem Leitbild des mündigen Staatsbürgers in Uniform.

Grundlage sowie Maßstab für das Traditionsverständnis und für die Traditionspflege in der Bundeswehr sind die zentralen und universellen Werte des Grundgesetzes, wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sowie die der Bundeswehr übertragenen Aufgaben und Pflichten. Der Primat der Politik und ihre verfassungsrechtliche Rolle als »Parlamentsarmee« binden die Bundeswehr auch in ihrem Traditionsverständnis an die freiheitliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Dieser Kardinalpunkt ist bestimmend für das Geschichtsbild der Bundeswehr und dafür, was für sie sinnstiftend und traditionswürdig sein kann. Aus der eingangs beschriebenen Werteorientierung der Tradition der Bundeswehr ergibt sich zwangsläufig ein handlungsleitender Unterschied zwischen beispielgebendem und traditionsstiftendem Verhalten. Belege für soldatisch professionelles Können, also das militärische Handwerk, aber auch Beispiele großer persönlicher Tapferkeit sind damit für sich allein noch nicht traditionsstiftend. Stets muss ein Bezug zu den Werten des Grundgesetzes hergestellt werden können, also insbesondere die Achtung der Menschenwürde, die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht, der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft sowie die Verpflichtung auf Freiheit und Frieden.

Der aktuelle Traditionserlass der Bundeswehr betont dabei, dass die Ursprünge dieses Wertekorpus weit in die Geschichte zurückreichen. So ist es möglich, aus allen Epochen der deutschen Militärgeschichte vorbildliche soldatisch-ethische Haltungen und Handlungen sowie militärische Formen, Symbole und Überlieferungen in das Traditionsgut der Bundeswehr zu übernehmen. Für die Bundeswehr können damit auch Personen, Ereignisse und Verfahren aus der Zeit vor ihrer Aufstellung im Jahre 1955 traditionsstiftend sein. Zentraler Bezugspunkt der Tradition der Bundeswehr ist jedoch ihre eigene Geschichte. Nach über 60 Jahren ist sie selbst zum Mittelpunkt ihrer Tradition geworden. Dazu zählen die Bewährung der Bundeswehr im Kalten Krieg und ihr Beitrag für die Bewahrung von Freiheit, Frieden und Demokratie sowie für die friedliche Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands.

Die Betonung der eigenen Geschichte markiert gleichzeitig eine Abgrenzung von der Vergangenheit, die indirekt darauf verweist, wie stark der öffentliche Diskurs über die Tradition der Bundeswehr noch immer vom Erbe der Wehrmacht und der Nationalen Volksarmee der DDR bestimmt wird. Aus dem wertebezogenen Traditionsverständnis der Bundeswehr ergeben sich klare und nicht verhandelbare Ausschlüsse. So pflegt die Bundeswehr keine Tradition von Personen, Truppenverbänden und militärischen Institutionen der deutschen Militärgeschichte, die nach heutigem Verständnis verbrecherisch, rassistisch oder menschenverachtend gehandelt haben. Daraus ergibt sich unumgänglich ein eindeutiger Trennschnitt zu Wehrmacht und Nationaler Volksarmee. Explizit grenzt sich die Bundeswehr von beiden ab. Aus unterschiedlichen Gründen, im Ergebnis jedoch gleichermaßen konsequent, bewertet sie beide als keinesfalls traditionswürdig. Die Wehrmacht, weil sie Instrument einer rassenideologischen Kriegsführung gewesen ist, und die Nationale Volksarmee als Hauptwaffenträger einer sozialistischen Diktatur. Der gültige Traditionserlass betont das widersprüchliche Erbe der deutschen Militärgeschichte, ihre Brüche und Zäsuren. Tradition und Identität der Bundeswehr nehmen daher zwar die gesamte deutsche Militärgeschichte in den Blick, schließen jedoch jene Teile aus, die mit ihrem wertegebundenen Traditionsverständnis unvereinbar sind.

In vielen Fällen führt diese wertebasierte Auseinandersetzung mit der Geschichte dazu, dass eindrucksvolle Beispiele militärischen Könnens aus der Geschichte eben nicht sinnstiftend wirken und somit auch nicht traditionswürdig sein können. Dies gilt insbesondere für Soldaten der Wehrmacht. Die Inkraftsetzung des aktuellen Traditionserlasses hat daher in einzelnen Fällen zur Umbenennung von Kasernen geführt, die nach Soldaten der Wehrmacht benannt waren. So wurde 2019 aus der ehemaligen Lent-Kaserne, benannt nach einem Kampfpiloten der Wehrmacht, die Johann-Christoph-von-Düring-Kaserne. Düring war hannoverscher Forstbeamter und Freikorpsführer in den Befreiungskriegen. Seine Grablege befindet sich in der Kaserne. 2021 traf es einen weiteren Wehrmachtspiloten. Aus der Marseille-Kaserne in Appen wurde die Jürgen-Schumann-Kaserne – zum Gedenken an den im Oktober 1977 im südjeminitischen Aden von Terroristen ermordeten Kapitän der entführten Lufthansa-Boeing 737 »Landshut«. Schumann hatte Teile seiner Offizierausbildung in Appen absolviert.

Wehrmachtssoldaten sind für die Bundeswehr nur dann traditionsstiftend, wenn sie nicht persönlich schuldig geworden sind und eine Leistung vorliegt, die vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart wirkt. Das können eine herausragende Einzeltat oder das Eintreten für Recht und Freiheit sein, etwa im militärischen Widerstand oder Verdienste beim Aufbau der Bundeswehr als Armee der Demokratie. Ein solch differenziertes Vorgehen ermöglicht es, die Leistungen der Aufbaugeneration der Bundeswehr angemessen zu würdigen. So kann die Bundeswehr ihren sogenannten »Gründervätern«, die in großer Mehrheit ehemalige Wehrmachtsangehörige waren, einen Platz in ihrem Traditionsgut sichern.

Geschichtskenntnisse und Traditionsbewusstsein sind auch in einer modernen Armee unverzichtbar. Beides ist untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Sinn soldatischen Dienens, seiner ethischen Grundlagen und seiner geschichtlichen Verankerung. Der Tradition der Bundeswehr ist deshalb eine wesentliche Bedeutung beizumessen. Tradition soll jedoch weder Dogma noch Handlungskonzept sein. Sie ist vielmehr der Kern der Erinnerungskultur der Bundeswehr, ihr historisches Selbstverständnis, das ihre Identität gleichzeitig prägt und widerspiegelt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.