Das Bundesverteidigungsministerium hat 2018 einen neuen Traditionserlass veröffentlicht. Dieser legt die Tradition als Kern der Erinnerungskultur der Bundeswehr fest. Tatsächlich steckt der Erlass sehr präzise ab, worum es beim Erinnern an die und in der Bundeswehr gehen soll. Gleichzeitig machen die Debatten rund um die Entscheidung, den alten Traditionserlass der Bundeswehr von 1982 weiterzuentwickeln, auch deutlich, vor welchen Herausforderungen die Erinnerungskultur in der Bundeswehr noch steht. Besonders die Frage, ob nicht die Soldatinnen und Soldaten stärker hätten eingebunden werden müssen, wurde kontrovers diskutiert. Denn ein Erlass kann Grenzen setzen und bestimmte Dinge ausschließen, aber nur schwer eine Kultur begründen. Die entsteht erst durch das tägliche Handeln der Soldatinnen und Soldaten.

Zum Selbstverständnis moderner Streitkräfte gehören die Pflege von Traditionen und die Orientierung an historischen Vorbildern. Grundlage dafür sollte eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein. Für die Bundeswehr ist die kritische Auseinandersetzung mit den Streitkräften früherer deutscher Staaten besonders wichtig. Die Wehrmacht ist nicht von den Verbrechen und der menschenverachtenden Ideologie der nationalsozialistischen Diktatur zu trennen. Im Traditionserlass wird deshalb zu Recht festgehalten, dass die Wehrmacht als Organisation keine Tradition begründen kann. Das gilt auch für die Nationale Volksarmee der DDR, wenngleich beide Armeen selbstverständlich nicht gleichzusetzen sind. Es kann nur an einzelne Personen erinnert werden, die Widerstand geleistet und damit sehr großen Mut bewiesen haben.

Umso wichtiger ist es, dass auch an Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr immer häufiger erinnert wird. Auch sie haben große soldatische Leistungen vollbracht – viele von ihnen im Auslandseinsatz, aber auch bei Hilfseinsätzen im Inland sind Angehörige der Bundeswehr über sich hinausgewachsen. Seit 2009 gibt es als höchste Form der Auszeichnung das Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit. Alle bisherigen Auszeichnungen wurden für Handlungen im Afghanistaneinsatz verliehen. Im August 2023 wurden zwei Soldaten des Kommando Spezialkräfte für ihren Einsatz im Rahmen der Evakuierung Kabuls im Sommer 2021, bei dem sie unter größter Gefahr dafür sorgten, dass Menschen, die sich in Kabul vor den Taliban verstecken mussten, außer Landes gebracht werden konnten, mit der höchsten Auszeichnung der Bundeswehr geehrt.

Sie können Vorbilder sein und Tradition stiften. Dazu wird in der Regel eine gewisse zeitliche, aber auch emotionale Distanz benötigt. Nach dem Ende des Afghanistaneinsatzes ermöglicht die begonnene Aufarbeitung des Engagements, das Geschehene historisch einzuordnen.

Die Erinnerungskultur der Bundeswehr ist sehr stark von Gedenkkultur geprägt. Für die Menschen, die im Dienst für die Bundeswehr ihr Leben verloren haben, gibt es mit dem Ehrenmahl der Bundeswehr einen zentralen Erinnerungsort sowie viele dezentrale Denkmäler. Der Deutsche Bundestag – vertreten besonders durch den Verteidigungsausschuss und die Wehrbeauftragte – bildet eine Brücke zwischen Zivilgesellschaft und Streitkräften und fördert das gegenseitige Verständnis wie auch eine aktive Erinnerungskultur. Dies geschieht sowohl in Form von Erinnerungsorten wie der digitalen Gedenkstele vor dem Saal des Verteidigungsausschusses, durch welche der im Auslandseinsatz gestorbenen Bundeswehrangehörigen gedacht wird, als auch in Form von Veranstaltungen.

Als Gesellschaft haben wir aber nach wie vor ein kompliziertes Verhältnis zu unseren Streitkräften. Nach zwei von Deutschland verschuldeten Weltkriegen haben sich die Nachkriegsgenerationen zu einem großen Teil von allem Militärischen abgewandt. Das kollektive Gedächtnis an die Bundeswehr wird in Deutschland noch immer von den Generationen geprägt, die während des Kalten Krieges und danach ihren Wehrdienst geleistet haben. Diese häufig romantisierende Erinnerungsperspektive bestimmt auch immer noch den Blick auf die heutige Bundeswehr, obwohl die aktuellen Herausforderungen andere sind als noch vor 20 oder vor 30 Jahren. Nicht erst seit dem Ende der Wehrpflicht, sondern schon mit der immer geringer werdenden Zahl derer, die überhaupt zum Dienst an der Waffe herangezogen worden sind, ist eine zusätzliche Distanz zwischen Streitkräften und ziviler Öffentlichkeit entstanden, die sich nur langsam verringert.

Dementsprechend ist es fast ausschließlich die Bundeswehr selbst, die an die Bundeswehr erinnert. Veranstaltungen wie feierliche Gelöbnisse etwa zum Jahrestag der Gründung der Bundeswehr am 12. November werden meist in militärischen Einrichtungen abgehalten. In manchen Fällen finden sie auf Einladung der Kommunen auf öffentlichen Plätzen statt, aber es bleibt meist eine reine Bundeswehrveranstaltung. Ähnlich verhält es sich mit dem Tag der Bundeswehr, zu dem einmal im Jahr ausgewählte Kasernen für die Öffentlichkeit geöffnet werden. Initiativen zur Erinnerung an die Bundeswehr, die von der zivilen Öffentlichkeit ausgehen, sind selten.

Ich wünsche mir, dass wir bald mit einem eigenen Veteranentag eine neue Möglichkeit haben, eine positive Erinnerungskultur zu stärken, indem wir diejenigen Menschen würdigen, die Leistungen für die Bundesrepublik erbracht haben und die auf die ein oder andere Weise zur Sicherheit unseres Landes beigetragen haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.