Ludwig Greven spricht mit dem Schweizer Urbanisationsforscher Sascha Roesler über die Bedeutung der Hygiene für Stadtplanung und Architektur, ihre soziale und kulturelle Dimension und über veränderte Wohnformen als Folge der Coronapandemie.

Ludwig Greven: Herr Roesler, seit wann spielt Hygiene für die Planung von Siedlungen und Städten eine Rolle?

Sascha Roesler: Wichtige medizinische Erkenntnisse zur Hygiene in der Stadt entstanden seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Seither wurde die Hygiene immer mehr zu einem wissenschaftlichen Thema, das stark mit der Entwicklung der Architektur und der Städteplanung zusammenhing – Stichwort: Kanalisation. Verdichtet hat sich diese Entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts in der modernen Architektur. Man könnte jedoch auch schon die Eingriffe von Georges-Eugène Haussmann in Paris unter diesem Vorzeichen verstehen. Er hat Altstadtquartiere abreißen und von neuen Achsen durchdringen lassen. Das Auflockern der Stadt ist generell ein wichtiges Anliegen der Moderne, um Luft und Licht in das städtische Gefüge hineinzubringen. Dahinter standen immer auch sozialeFragen, denn die Hygiene war und ist ein interdisziplinäres Feld von Sozial- und Lebensreformern. Dazu gehören Politiker, Mediziner, Städtebauer und Architekten. Eine wichtige Wegmarke war die Hygieneausstellung in Dresden 1911. Seitdem lautet das Ziel: Hygiene soll das Leben insgesamt unter modernen Vorzeichen reformieren.

Vorindustrielle Städte waren aufgrund der engen Bauweise und der ungesunden Lebensverhältnisse Herde für Seuchen aller Art. Die alten Römer dagegen bauten Aquädukte für frisches Wasser, Kloaken und Thermalbäder. Wussten sie mehr über Hygiene?

Ja, in allen Kulturen der Welt kann man ein altes Wissen zur Hygiene finden. Aber auch römische Städte wurden von Epidemien heimgesucht und bereits damals war die Hygiene auch sozial strukturiert. Spannend ist, wie sich das heute weiter konkretisiert, auch im Zeichen der ökologischen Krise. Das könnte zu einem neuen Bewusstsein von Hygiene führen.

Arbeiterquartiere und Armenviertel waren und sind sehr dicht bebaut, ohne Grün und Luft. Die Viertel der Reichen dagegen sind bis heute weitläufig, mit großen Grundstücken, Parks und Swimmingpools. Ist urbane Hygiene eine Frage des Geldbeutels?

Sicherlich auch. Die Überlegungen zur Hygiene seit Ende des 19. Jahrhunderts bezogen sich zentral auf die Überbelegung der Mietskasernen. Damals haben sich dort fünf bis 15 Menschen einen Raum geteilt. Oft wurde untervermietet, weil Wohnen so teuer war. Es wurde in Schichten geschlafen und gearbeitet. Es gab kaum fließendes Wasser, höchstens in der Küche, und nur wenige Toiletten. Das waren die Orte, für die der Begriff »Slums« geprägt wurde. Seither hat sich viel getan; diese Probleme haben wir zum Glück in den zentraleuropäischen Städten nicht mehr.

Die Coronapandemie hat die Bedeutung der Hygiene nachdrücklich ins Gedächtnis gerufen. Welche Folgen hat das für die Stadtgestaltung und das Bauen der Zukunft?

Das ist schwer zu sagen. Es wurde in den vergangenen zwei Jahren unter Architekten viel darüber spekuliert. Ich sehe da noch keine klare Tendenz. Das Homeoffice wird jedoch auf jeden Fall für einen Teil der Bevölkerung eine Relevanz behalten.

Braucht es neue Bauvorschriften?

Die extreme Überbelegung der Arbeiterquartiere hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu neuen städtebaulichen Regelungen geführt: zur Begrenzung der Wohnungsbelegung und zur Reduktion der Anzahl Bewohner pro Fläche. Das wirkt bis heute nach. Ich denke, in gewissen Stadtgebieten könnte es heute hingegen wieder dichter werden. Dafür bräuchte es eine erneute Anpassung der Bauvorschriften.

Aber jetzt geht es wohl eher um Abstand?

Das Näheverhältnis zwischen Menschen ist immer kulturell und sozial aufgeladen. Das kann man schwer verordnen. Das kommt aus der Gesellschaft heraus. Es ist die Frage, was von den Direktiven der Corona-Zeit an neuen Verhaltensweisen im öffentlichen Raum bleiben wird. Dass man sich zum Beispiel einreiht und vorne rein- und hinten wieder rausgeht, stellt eine neue Art dar, den Raum zu organisieren. Ich könnte mir vorstellen, dass das bleibt, weil dies den Leuten das Gefühl vermittelt, dass sie so vor Übertragungen geschützt sind. Interessant wird auch sein zu beobachten, wie sich der Bürobau verändern wird. Das hängt auch von den Firmen ab. Wenn es zu großen Leerbeständen in den Innenstädten kommen wird, würde das viel Freiraum für neue, vielleicht auch temporäre Nutzungen freisetzen.

Ende des 19. Jahrhunderts kamen große Hallenbauten auf, für Bahnhöfe, Märkte, aber auch für Fabriken. Heute arbeiten viele in Großraumbüros. Hat das auch mit Hygiene zu tun?

Es ist schwer, da klare Kausalitäten auszumachen. Das lag auch an neuen Technologien wie dem Stahlbetonbau, der viel größere Spannweiten ermöglicht. Eine Gesellschaft nutzt so etwas aber auch immer, um ein neues Hygienebewusstsein zur Geltung zu bringen. Die Frage ist: Was steht jetzt an? Einen etwas klareren Trend sehe ich eher im Privaten. Weil immer mehr Menschen zu Hause arbeiten, wird das zu einer Anpassung der Wohnungsgrundrisse führen. Innerhalb von Siedlungen könnten intelligente Bauherren Coworking-Spaces einrichten. Die Städte werden immer heißer. Die Bewohner könnten daher auch draußen an ihren Computern arbeiten. Man muss jedoch diese Räume entwerfen und gestalten. Es werden neue semi-private, semi-öffentliche Räume benötigt, die vielfältig genutzt werden können.

Stadtplaner setzen wegen der Wohnungsnot auf Nachverdichtung. Steht das im Widerspruch zur Hygiene, die ja Distanz verlangt?

Nicht wirklich, weil schon jetzt die Menschen auf immer größeren Flächen leben. Die Wohnungsgröße pro Bewohner hat deutlich zugenommen. Und der Hygienestandard ist meist so hoch, dass es durch Verdichtung nicht zu gefährlichen Nähen kommt. Aber es ist natürlich ein großer Unterschied, ob man zu fünft in einer Dreizimmer-Sozialwohnung lebt oder ob man zur Upper-Middle-Class gehört und fünf Zimmer zu zweit teilt. Deshalb muss man über die sozialen Unterschiede reden, auch mit Blick auf die Hygiene.

Zwingen solche Veränderungen zu mehr Flexibilität der Wohnungen, damit man sie je nach Bedarf anders nutzen kann, auch wenn beispielsweise die Kinder ausziehen?

Die Nutzung der Wohnungen ist bei uns sehr determiniert. Zwar wurde da in den 1960er und 1970er Jahren experimentiert. Aber es hat sich gezeigt: Niemand möchte eine Wand verschieben. Wir wollen einziehen und alles ist fertig. Und wir können kaum noch einen Hammer bedienen. In den meisten Orten der Welt ist es anders. Da bauen die Leute an ein kleines Haus neue Räume an, wie es das früher auch bei uns gab. In Europa hieß das zu Beginn des 20. Jahrhunderts »das wachsende Haus«. Dennoch ist die Idee wichtig, dass Räume unterschiedlich genutzt werden können. Eine Küche muss heute nicht mehr zwingend nach Küche aussehen. Man muss Wohnungsgrundrisse entwickeln, die eine vielfältige Nutzung ermöglichen.

Die Pandemie hat die Flucht aufs Land verstärkt. Aus ökologischen Gründen ist das verpönt – wegen der Zersiedlung der Landschaft und der langen Fahrtwege mit entsprechendem CO2-Ausstoß. Lebt es sich außerhalb der Städte und im Eigenheim am Stadtrand gesünder?

Nicht unbedingt. Unsere Gesellschaften sind so oder so stark urbanisiert. Auch außerhalb der Großstädte finden sich Internet, Supermarkt, Schulen, Kliniken. Worüber jetzt diskutiert wird, sind Erfahrungen noch auch Pest-Zeiten. In der italienischen Renaissance etwa hatten die Adligen ihre Landhäuser, und auch heute haben Vermögendere Zweitwohnungen auf dem Land. Eine coronabedingte Abwanderung aus den Städten konnte ich jedoch nicht beobachten. Die Corona-Probleme waren in Kleinstädten außerdem die gleichen. Alle zirkulieren heute mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln. Deshalb gibt es bei der Verbreitung von Erregern kaum einen Unterschied zwischen den urbanen Zentren und den Agglomerationen.

Welche Rolle spielen bei der Stadthygiene Parks und andere öffent-liche Grünflächen, die Begrünung von Dächern und Fassaden oder Urban Gardening?

Das ist ein zentrales Thema. Die zwei Jahre der Pandemie haben gezeigt, wie wichtig es ist, dass es weitläufige öffentliche Parks und auch privat nutzbare Gärten gibt. Diese grünen Räume stehen für Lebensqualität. Der Innenraum der Wohnungen muss sehr bewusst im Verhältnis zu einem ausreichenden öffentlichen Raum stehen, der Distanz ermöglicht.

Wir haben bislang nur über Europa gesprochen. Die Verstädterung nimmt jedoch weltweit zu, bald wird mehr als Hälfte der acht Milliarden Menschen in Städten leben, in den Megacitys Afrikas, Asiens und Lateinamerikas häufig in Slums mit extrem ungesunden Verhältnissen. Was kann man dort tun, um die hygienischen Standards zu verbessern?

Menschen im »Globalen Süden« waren in Zeiten der Coronapandemie kaum vorstellbaren Herausforderungen ausgesetzt. Die Privatsphäre ist, wie wir auch aus der Geschichte des europäischen Wohnungsbaus wissen, ein Luxusgut, das sehr viele Menschen nicht besitzen. Dazu kommen fehlende Impfstoffe sowie die Unterversorgung mit essenziellen Technologien der städtischen Hygiene wie sauberes Trinkwasser und Kanalisationen. Da Pandemien weltweit zirkulieren, wäre eine weit stärkere Solidarität des »Globalen Nordens« mit den Ländern des »Globalen Südens« eigentlich Pflicht.

Wie und wo wohnen Sie selbst?

Ich wohne in Zürich und unterrichte im Tessin. Dorthin pendle ich mit dem Zug und übernachte dann dort. Im Vergleich zu Deutschland ist Zürich, die größte Stadt der Schweiz, klein, aber mit sehr viel Grünräumen. Wir wohnen in Flussnähe. Es ist mein Ritual, da entlangzulaufen, aus der Stadt raus oder in Richtung Innenstadt. Während der Pandemie war das für mich essenziell.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.