Selbst unverbesserlichen Optimisten setzt die Nachrichtenlage in diesen Tagen zu: In der Ukraine wütet der Krieg mit ungebrochener Brutalität, gerade einmal zwei Flugstunden von Berlin entfernt töten russische Bomben ukrainische Familien im Schlaf. Die Beziehungen zwischen China einerseits sowie der Europäischen Union und den USA andererseits sind auf einem historischen Tiefpunkt, die Folgen für Weltfrieden und Weltwirtschaft sind kaum abzusehen. Das Großmanöver »Air Defender 23«, das Mitgliedstaaten der NATO und weitere Staaten vor allem im Luftraum über Deutschland gerade durchgeführt haben, erinnert uns an eine unbequeme Wahrheit, die wir zu gern verdrängen: Ein Krieg, in den die NATO verwickelt ist, wird immer auch um und in Zen traleuropa geführt werden, gerade auch auf dem strategisch und infrastrukturell wichtigen Territorium Deutschlands. Was würde von einem Schlachtfeld Deutschland übrigbleiben?
Doch damit nicht genug. Täglich ertrinken Menschen auf dem Weg nach Europa in der Hoffnung, in ihrer Heimat Tod, Verfolgung oder Hunger zu entkommen und bei uns die Chance auf einen Neuanfang zu erhalten. In Kanada wie in Brandenburg brennen große Waldgebiete, während in Tirol der Südgipfel des Fluchthorn-Massivs kollabiert und bergab stürzt – 100 Höhenmeter Gestein – vermutlich ausgelöst durch das schleichende Auftauen der Permafrostböden in den Alpen. Private und öffentliche Haushalte ächzen unter den finanziellen Lasten der Coronapandemie und des Krieges, enorme Preissteigerungen insbesondere bei Lebensmitteln, Energie und Personal engen die Handlungsspielräume von Menschen und Einrichtungen empfindlich ein.
In Deutschland treffen die Folgen der Pandemie, der politischen und militärischen Neuordnung der Welt, des Klimawandels sowie der damit einhergehenden globalen Migrationsbewegungen auf erhebliche strukturelle Probleme, die die Widerstandskraft unserer Gesellschaft langfristig schwächen und den konstruktiven Umgang mit den bestehenden globalen Herausforderungen erschweren. Dazu zählen insbesondere die demografische Entwicklung, der Arbeitskräftemangel, verschlissene Infrastrukturen, die relative Rohstoffarmut sowie die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten, dauerhaft hohe Energiepreise, die wirtschaftliche Rezession sowie nicht zuletzt der Material- und Personalmangel der Bundeswehr.
Es steht außer Frage, dass diese aktuellen Herausforderungen auf nationaler und internationaler Ebene tiefgreifende Auswirkungen auch auf den Kulturbereich in Deutschland haben und haben werden, auf die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Möglichkeiten kultureller Produktion und Rezeption, auf die kulturellen Infrastrukturen und nicht zuletzt auf diejenigen Menschen, die sich haupt- und ehrenamtlich für die Kultur engagieren. Es geht dabei um die zukünftige Finanzierung öffentlich getragener Kultureinrichtungen und Kulturveranstaltungen, um eine diversifizierte Medienlandschaft, um die globale Wettbewerbs fähigkeit der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft, um den Schutz unseres kulturellen Erbes vor Krieg, Naturkatastrophen und Protestaktionen aufgebrachter Bürgerinnen und Bürger, um die Per spektiven von Dritten Orten, soziokulturellen Zentren und Stätten kultureller Bildung sowie um die vielen zivilgesellschaftlich verankerten und ehrenamtlich geführten Einrichtungen, Projekte und Initiativen in städtisch und ländlich geprägten Räumen.
Mit anderen Worten: Auf dem Spiel steht die Vielfalt kultureller und medialer Ausdrucksformen in unserem Land und damit unsere zukünftige Fähigkeit, unser Wollen, Tun und Hoffen sinnhaft und diskursiv in dieser Welt zu verorten. Abstrakt formuliert könnte man mit dem Anthropologen Marshall Sahlins sagen, dass »ein Ereignis (…) zu dem (wird), was die Interpretation aus ihm macht. Es erlangt historische Bedeutung nur dadurch, dass es im Kontext und vermittels eines kulturellen Schemas aufgenommen wird«. In diesem Sinne geht Sahlins davon aus, dass »die Geschichte (…) – in den verschiedenen Gesellschaften auf verschiedene Weise – durch die Kultur strukturiert (wird), und zwar dergestalt, dass alle Dinge in Bedeutungsschemata eingeordnet werden«. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Bedrohung der Kultur eine direkte Bedrohung dessen ist, was die Identität und den Zusammenhalt einer Gesellschaft ausmacht: ihr Selbstverständnis, ihre Werte und ihre Lebensweisen.
Wenn eine Gesellschaft kulturelle Muster und Ausdrucksformen tatsächlich derart dringend benötigt, um ihre Umwelt einordnen zu können und damit als Gesellschaft überhaupt erst handlungsfähig zu werden, dann ist es erstaunlich, dass eine Stärkung der Resilienz in Kultur und Medien und die dazu erforderlichen Maßnahmen nicht weiter oben auf unserer gesamtgesellschaftlichen Agenda stehen. Zu zaghaft erscheinen die Rufe der Politik nach mehr Risikomanagement und Notfallvorsorge bei kulturellen und medialen Infrastrukturen, zu selten sind staatliche Förderinstrumente und andere Anreize für eine Erhöhung der Widerstandskraft im Kriegs- oder Katastrophenfall. Auch bei den Akteurinnen und Akteuren im Kulturbereich selbst stößt das Thema Resilienz nicht immer auf Gegenliebe; es fehlt bei ihnen vielfach an einschlägigem Wissen und Zeit, weniger an einem Verständnis für den Ernst der Lage.
Schwer nachvollziehbar ist weiterhin der Umstand, dass es in Deutschland mehr als drei Jahre nach dem Ausbruch der Coronapandemie, knapp zwei Jahre nach der verheerenden Hochwasserkatastrophe, insbesondere in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, und 16 Monate nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine nach wie vor keine übergreifenden Strategien, Konzepte und verbindlichen Standards für eine Erhöhung der Resilienz in der Kultur sowie für den Schutz von Kulturgut und kulturellen Infrastrukturen im Krisen- und Katastrophenfall gibt. Haben wir nichts gelernt? Was muss noch geschehen, damit wir das Naheliegende tun? Eines steht fest: Alleine die großen Herausforderungen, vor denen Bund, Länder und Kommunen in den kommenden Jahren bei der Finanzierung von Kultureinrichtungen und Kulturveranstaltungen stehen, bedürfen umsichtiger präventiver Handlungsoptionen, damit der drohende Verlust an Infrastrukturen, Kompetenzen und Inhalten nicht unkontrolliert erfolgt.
Mehr Resilienz in der Kultur ergibt sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Zunächst sollten wir verstehen lernen, woher die ausgeprägte Unlust in unserer Gesellschaft stammt, sich auf Krisen, Krieg und Kata strophen angemessen vorzubereiten. In seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch »Radikale Hoffnung: Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung« äußert der Philosoph Jonathan Lear die Vermutung, dass die »Unfähigkeit, sich ihre eigene Zerstörung vorzustellen, (…) tendenziell der blinde Fleck einer jeden Kultur« ist. Selbst wenn man nicht derart grundsätzlich und rigoros argumentieren will, lässt sich immerhin auf die lebensweltliche, wohl nicht nur anekdotische Beobachtung verweisen, dass viele von uns sich gerade auch im Privaten schwer damit tun, für Krisen und Katastrophen vorzubauen, ganz gleich, ob es sich etwa um Notfallvorräte im Keller oder medizinische Vorsorgeuntersuchungen handelt. Möglicherweise ist das Thema Resilienz auch aus diesem Grund kulturpolitisch unliebsam. Gerade in der Kulturpolitik gibt es doch vordergründig so viel Schöneres und scheinbar Relevanteres, über das sich sprechen und streiten lässt. Hinzu kommt, dass Risikomanagement und Notfallvorsorge in der Kultur auch in praktischer Hinsicht herausfordernd sind. Die Verteilung der entsprechenden Zuständigkeiten in Deutschland ist komplex und erfordert ressortübergreifende Zusammenarbeit sowie einen Schulterschluss zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft. Oder müssen wir uns gar eingestehen, dass uns der Erhalt der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und Infrastrukturen letzten Endes doch weniger wichtig ist, als wir dies immer behaupten? Wäre es denkbar, dass wir einerseits darauf hinarbeiten, Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, andererseits aber nicht bereit oder in der Lage sind, den Gegenstand dieses angestrebten Staatsziels angemessen auf Krisen und Katastrophen vorzubereiten?
Ganz gleich, aus welchem Grund wir uns nicht stärker für Resilienz in der Kultur einsetzen, es sollte uns ermutigen, dass wir längst über Methoden, Instrumente und Akteure in Deutschland verfügen, die bei entsprechendem Einsatz wichtige Erfolgsfaktoren sein können. Forschung zur Resilienz und Innovationsfähigkeit komplexer Systeme etwa bietet wertvolle methodische Anhaltspunkte auch für Strategien zur Erhöhung der Widerstandskraft kultureller Infrastrukturen. Dazu zählen beispielsweise die Stärkung von vielfältigen Netzwerken und Beziehungen, die Förderung von Antizipation sowie das Vorhalten von breiten Kompetenzen, wie z. B.: »Perspektiven – Policy Brief 03-2021« des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung.
Zahlreiche konkrete Empfehlungen für den besseren Schutz von kulturellen und medialen Infrastrukturen in Krisensituationen bieten Leitfäden und Handreichungen nationaler und internationaler Institutionen. Beispielhaft erwähnt seien hier lediglich die »Deutsche Strategie zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen (Resilienzstrategie)« der Bundesregierung, die »Gemeinsamen Empfehlungen der Kulturministerkonferenz, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der kommunalen Spitzenverbände für Maßnahmen im Kontext einer etwaigen Gasnotlage unter besonderer Berücksichtigung Kulturgut bewahrender Einrichtungen« oder die »Empfehlungen zur Energieeinsparung und Notfallplanung Energiekrise für Kulturgut bewahrende Einrichtungen« des SicherheitsLeitfadenKulturgut (SiLK), die sämtlich im Jahr 2022 veröffentlicht wurden.
Optimistisch stimmt schließlich auch die Beobachtung, dass die Zahl der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure in Deutschland, die sich für Kultur in Krisen und Notfällen im Rahmen ihrer Möglichkeiten einsetzen wollen, stetig zunimmt. Diese Akteure miteinander ins Gespräch zu bringen, sie lokal und regional miteinander zu vernetzen und im Bedarfsfall ihre jeweiligen Kapazitäten zu koordinieren, wird eine der zentralen Aufgaben sein, um die Resilienz kultureller und medialer Infrastrukturen in unserem Land zu stärken.
Mehr Resilienz in der Kultur ist heute wichtiger als jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Denn ohne die Sinnangebote der Kultur wird unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft die Herausforderungen, vor denen sie steht, kaum bewältigen können. Wer die Resilienz der Kultur stärkt, investiert in die Innovations- und Transformationskraft der Gesellschaft. Noch ist Zeit. Unsere Entschlossenheit heute entscheidet darüber, wie wir morgen leben werden.