Am 28. Oktober 1969 gab Willy Brandt als frisch gewählter Bundeskanzler der Regierungskoalition von SPD und FDP eine Regierungserklärung ab, in der ziemlich zu Anfang jene fünf Worte fielen, die zur programmatischen Anspruchsformel einer ganzen politischen Epoche wurden: »Wir wollen mehr Demokratie wagen!«

Anderthalb Stunden lang deklinierte Brandt durch die Felder der Außen- und Innenpolitik, von Finanzen, Bildungs-, Verteidigungs- und Verkehrspolitik, was zu verstehen sei unter: »mehr Demokratie wagen«. Diese Regierungserklärung ist, in ihrer komplexen Wucht, ein unverändert – oder erst recht – lesenswerter Text, der auch als Streitschrift zu begreifen ist. Brandt streitet, Vorgängerregierungen lobend, gleichwohl für eine andere Republik. Was nicht nur politische Zielmarken im Einzelnen bedeuten soll, sondern Stil und Form des politischen Prozesses. Transparenz und Teilhabe sind die Metabegriffe dieses »mehr Demokratie wagen«.

Dass sich damit eine Zeitenwende im politischen Diskurs angekündigte, wusste man auch in der CDU/CSU, die bis dahin alle Bundesregierungen angeführt hatte. In der Erwiderung auf Brandts Regierungserklärung sagte der konservative Oppositionsführer Rainer Barzel: »Nun folgt auf die Zeit der ›Großen Koalition‹ eine Zeit der ›Großen Kontroverse‹«. Barzel hatte verstanden, dass »mehr Demokratie wagen« auch bedeutete: »mehr Streit wagen«.

Die beiden knappen Sätze von Brandt und Barzel markieren für die folgenden Jahre eine politische Debatte, die tief in die bundesdeutsche Gesellschaft hineinwirkte.

Die »Große Kontroverse« in der »mehr Demokratie gewagt« wurde, war eine Zeit des politischen Streits, der hart, fundamental, teilweise unerbittlich geführt wurde. Er ließ politische Lager aufeinanderprallen, konstituierte eben dadurch aber auch eine politische Öffentlichkeit, die es in dieser Intensität und Qualität zuvor nicht gegeben hatte.

Der Streit trennte und fügte zusammen, er führte auch zu Klärungsprozessen: Die Gründung der »Grünen Partei« 1980 ist ohne die Streitformen der vorangegangenen Jahre kaum denkbar.

Im Jahr 2013 unternahm der politische Publizist Roger Willemsen einen bemerkenswerten Selbstversuch. Ein ganzes Jahr lang setzte er sich in jeder parlamentarischen Sitzungswoche auf die Pressetribüne des Deutschen Bundestags und beobachtete minutiös das Geschehen im Plenum: Reden, Reaktionen nonverbale Aktionen. Eigene Beobachtungen und 50.000 Seiten offizielles Wortprotokoll fasste Willemsen zusammen in einem über 400 Seiten starken Buch: »Das hohe Haus«.

Der Text ist so erhellend wie erschütternd. Willemsen wiederholt nicht die bekannte Klage, dass Plenarsitzungen oftmals vor fast leeren Sitzreihen stattfinden. In der Regel damit begründet, dass die Arbeit der Abgeordneten, soweit sie in Berlin zu verorten ist, vorrangig in Ausschüssen und Arbeitsgruppen stattfinde. Er zitiert die Auffassung, dass das Plenum die »Schauseite« des politischen Prozesses darstelle, wo fertige Ergebnisse präsentiert werden, nicht die »Arbeitsseite«, wo diese entstehen.

Gerade dadurch aber entsteht eine gefährliche Dynamik. Natürlich prallen auch in den Plenardebatten, die als Alltagsgeschäft geführt werden, Meinungen aufeinander. Regierungs- und Oppositionsvertreter streiten sich. Aber: Worum geht es bei diesen Streitereien? In den seltensten Fällen darum, tatsächlich eine Sache in argumentativer Schärfe auszuloten und im kontroversen Diskurs Positionen zu erarbeiten. Die sind lang vorher klar und werden nun als eine Art »Scripted Reality« ins politische Schaufenster gestellt. Wo die originäre Funktion argumentativen Streits fehlt, geht es um Sekundärqualitäten: die Chefinnen und Chefs des eigenen Lagers gut aussehen lassen, die Protagonisten der Gegenseite niedermachen. Die gelungene Beschädigung der Konkurrenz wird zum Erfolgsmaßstab für Debattenredner, Anerkennung der eigenen Fraktion ist der wesentliche Resonanzboden. Mit »Streitkultur« im Sinne einer Konstituierung politischer Öffentlichkeit durch Diskurs hat des so viel zu tun wie ein Catch-Turnier auf dem Rummelplatz mit olympischen Ringkämpfen.

Bei dieser Verschiebung von Parametern kommt nicht nur die produktive Substanz von Streit abhanden – vielmehr wendet sich das aufgeführte Schauspiel auch noch gegen diejenigen, für die man es aufzuführen scheint.

Willemsen benennt exemplarisch den Satz eines FDP-Abgeordneten: »Es gibt in Deutschland eine Zunahme an Armutsberichten, aber keine Zunahme an Armut.« Willemsen konstatiert: »Es sind diese Momente, diese Sätze, diese Applauswellen, in denen das Parlament aufhört, Volksvertretung zu sein. Denn wie immer man Armut erklärt, wen immer man verantwortlich macht – sie zu leugnen, zeugt von Verachtung.«

Welche Wirkung erzeugt ein solcher, ums eigene Gravitationszentrum kreisender Sprechbetrieb in der Öffentlichkeit außerhalb des politischen Institutionengefüges und seiner Protagonisten? Chantal Mouffe, die damals in London lehrende linksunabhängige belgische Politikwissenschaftlerin, schrieb 2007 in ihrem schmalen Buch »Über das Politische« auch über die Ursachen wachsender Popularität rechtspopulistischer Parteien.

Für Mouffe entsteht politische Identität nicht einfach aus einem kumulierten »Wir« – dieses könne sich überhaupt nur bilden als Auseinandersetzung mit einem »Anderen«, das sie als notwendigen »Feind« bezeichnet. Politische Systeme müssten, auch in ihren Institutionen und Diskursen, real existierende Antagonismen erkennen lassen.

Das Erstarken rechtspopulistischer Organisationen deutet für Mouffe auf Defizite der arrivierten Parteien hin, wenn »ein Konsens in der Mitte hergestellt worden (war), der den Wählern keine echte Wahl zwischen deutlich voneinander unterschiedenen Programmen ermöglichte«. In der Logik ihrer Argumentation wäre der »Kampf um die politische Mitte«, den die arrivierten Parteien führen, paradoxerweise hinter dem Rücken der Akteure ein Treiber genau jener Kräfte, die aus der Mitte heraus abgewehrt werden sollen. Diese These wäre zumindest einen soliden Streit wert, der gewagt werden könnte.

Auch die derzeitige Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat sich bei Willy Brandt bedient: »Wir wollen mehr Fortschritt wagen« wurde beim Regierungsantritt Ende 2021 selbstbewusst verkündet. Gut anderthalb Jahre später liest sich das fremd.

Von Streit zwischen den Koalitionären ist viel zu berichten, von Streitkultur wenig. In einem seltenen Moment öffentlicher Frustration brach es am 21. März, bei der grünen Fraktionsklausur in Weimar, aus Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck heraus: »Es kann nicht sein, dass in einer Fortschrittskoalition nur ein Koalitionspartner für den Fortschritt verantwortlich ist und die anderen für die Verhinderung von Fortschritt.« Anlass war das gezielte Durchstechen eines für die Energiewende wesentlichen Gesetzesentwurfs im Frühstadium. Der Entwurf war unausgegoren, der Kreis der Diskutanten klein und hochrangig, der Schaden maximal – jedenfalls für den Grünen Koalitionspartner.

Das Manöver – und auch Habecks Reaktion – warf ein kurzes Blitzlicht auf erbittertes Streitgeschehen, politischer Nahkampf im Koalitionsdschungel. Aber das hatte und hat nichts zu tun mit »Streitkultur«, in der offen – und öffentlich nachvollziehbar – die grundsätzliche Frage verhandelt würde, wie die Energiewende, dieses angeblich gemeinsame zentrale Projekt der »Fortschrittskoalition« umzusetzen sei. Das liegt zum einen ganz gewiss an der komplexen Materie – große Transformation mit möglichst kleinen Beeinträchtigungen des Status quo. Zum anderen aber hat es ebenso gewiss mit dem handelnden Personal in den ersten Reihen zu tun.

Habecks Ausbruch nach der im Kern vertragsbrüchigen Durchstecherei folgte ein 30-stündiger Sitzungsmarathon des Koalitionsausschusses. Dass diese Dauer in irgendeiner Weise etwas mit produktiver Streitkultur zu tun gehabt hätte, war nicht zu hören oder zu lesen.

Was die politischen Spitzen nicht schaffen, schaffen ihre administrativen Fußtruppen logischerweise dann auch nicht. Dreimal wöchentlich lassen sich die Sprecherinnen und Sprecher der Bundesregierung in der Bundespressekonferenz (BPK) von Parlamentsjournalisten befragen. Auch lang gediente BPK-Mitglieder – der Autor dieses Textes gehört seit vielen Jahren dazu – können sich kaum daran erinnern, in der Vergangenheit eine derartige Häufung von Konflikt bestreitenden Floskeln gehört zu haben. Man sei »in der Ressortabstimmung«, »auf einem guten Weg«, schon bald werde es »ein geeintes Ergebnis« geben – der Zettelkasten ist ergiebig.

Man kann das am wenigsten den Sprecherinnen und Sprechern vorwerfen, sie folgen der doppelten Vorgabe: das eigene Ressort möglichst gut aussehen zu lassen und Streit innerhalb der Regierung abzustreiten, auch wenn der unübersehbar ist. Auch hier tritt ein Paradoxon zutage: Je absurder Konflikte nicht thematisiert, sondern geleugnet werden, desto deutlicher treten sie hervor.

Dass unter dem Eindruck solcher faktisch realitätsleugnenden Selbstdarstellung des Regierungsapparates das Ansehen der Bundesregierung sowie der sie tragenden Parteien in den Umfragekeller rauscht, kann nicht verwundern.

Gewiss wäre den Bürgern eine reibungsarm und effizient arbeitende Regierung am liebsten.

Aber wo die multiple Krisenrealität dieser Gesellschaft dies wenig wahrscheinlich macht, wäre vielleicht eine offene, streitige Auseinandersetzung um Analyse, Konflikte, Entscheidungen die zweitbeste Option. Es wäre ein Novum in der bundesdeutschen Koalitionsgeschichte. Aber das sind die Zeiten ja auch.

Vom Nutzen des Streits in komplizierten Fragen wusste übrigens auch Johann Wolfgang von Goethe. Zur Eröffnung der »Freitagsgesellschaft«, eines von ihm 1791 in Weimar initiierten Zirkels kluger Menschen – das Wort »Thinktank« war noch nicht erfunden – schrieb er: »Streitigkeiten zerstören die gesellige Wirksamkeit, und wechselseitige Entfernung ist gewöhnlich die Folge von gemeinsamen Studien. (…) Aber auch der Streit ist Gemeinschaft, nicht Einsamkeit (…)«.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.