Seit 2017 leitet der gebürtige Dortmunder Michael Lang das 1902 gegründete Ohnsorg-Theater in Hamburg. Das Volkstheater fördert die niederdeutsche Sprache – »Plattdeutsch« – durch Aufführungen in ebendieser. Bevor Lang ans Ohnsorg-Theater kam, leitete er 19 Jahre die Komödie Winterhude. Im Gespräch gibt er Ludwig Greven Auskunft darüber, vor welchen Aufgaben das Aussterben des Platt sein Haus stellt, über die Bedeutung von Regionalsprachen und -kulturen und über Vorurteile gegen volkstümliche Stücke.

Ludwig Greven: Sie wurden in Dortmund geboren. Wie und wann haben Sie Platt gelernt?

Michael Lang: Als ich sechs war, ist meine Familie nach Hamburg gezogen. Mit Platt kam ich vor allem durch die tägliche NDR-Radiosendung »Hör mal’n beten to« in Berührung. Zu Hause und in der Schule wurde nur Hochdeutsch gesprochen. Ich gehöre zur ersten Generation im Norden, die nicht mehr mit Plattdeutsch als Alltagssprache groß geworden ist. Das hat auch gesellschaftliche und historische Gründe. Unsere Elterngeneration hat die Entnazifizierung und später die 68er-Revolution erlebt. Vieles, was mit Heimat, Brauchtum, deutscher Kultur und nationaler Identität zu tun hat, war durch die Naziherrschaft sehr negativ belegt und wurde verdrängt.

Auch alles Volkstümliche?

Kann man so sagen. Wir hatten einen Teil unserer Identität verloren. Die »Kollektivschuld« für die Verbrechen der Nazis prägte unsere Jugend und unsere Begegnungen mit anderen Ländern, Sprachen und Kulturen.

Bei Platt, Mundarten und Dialekten reden wir aber über regionale Kulturen.

Da wurde möglicherweise nicht mehr differenziert. Die meisten Eltern haben ihren Kindern nicht mehr Platt beigebracht, gelegentlich bekamen wir aber von Oma und Opa noch ein paar Redewendungen mit auf den Weg, sodass uns Klang und Melodie der Sprache vertraut sind.

Mundarten und Platt galten schon immer als Sprachen der einfachen Leute. Auf diejenigen, die sie sprachen und sprechen, sahen und sehen Gebildetere oft herab. Hat das Abwenden davon auch mit der Bildungsexpansion und den gesellschaftlichen Veränderungen zu tun?

Offensichtlich ja. Platt wurde von der bürgerlichen Gesellschaft oftmals assoziiert mit einer Unterschichten-Sprache. Hochdeutsch wurde eher in den »besseren« Kreisen verortet, und da wollte jeder dazugehören. In Schule, Ausbildung, Beruf hatte es schon länger Einzug gehalten, Platt verlor dadurch erheblich an Bedeutung, zumindest in der Großstadt. Im ländlichen Bereich hält es sich zum Teil bis heute. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu Dialekten wie Bayerisch oder Kölsch. Dialekte bekommen Kinder auch heute noch mit. Platt ist aber eine eigene Sprache. Doch die wenigsten Kinder im Norden wachsen noch zweisprachig auf.

Selbst das Fernsehen scheute Regionalsprachen und Dialekte. Mit den Aufzeichnungen aus dem Kölner Millowitsch- und dem Hamburger Ohnsorg-Theater hatte die ARD ab den 1950er Jahren Riesenerfolge, aber eben nicht in Kölsch und Platt, sondern in einem eingefärbten Hochdeutsch. Auch da suchte man zwar das Volksnahe, Regionale, aber nicht zu speziell. Es gab insgesamt nach 1945 eine Hinwendung zu reinem Hochdeutsch. Das ist für uns heute das größte Problem. Denn meine Generation, die geburtenstarken Jahrgänge, haben jetzt in der zweiten Lebenshälfte eigentlich Zeit, regelmäßig ins Theater zu gehen. Viele jedoch scheuen den Weg ins Ohnsorg, weil sie glauben, kein Plattdeutsch zu verstehen.

Aber Sie verstehen und sprechen dennoch Platt?

Verstehen natürlich, beim Sprechen lerne ich täglich dazu. Ich bin auch schon früh als Besucher ins Ohnsorg-Theater gegangen, lange bevor überhaupt am Horizont auftauchte, dass ich eines Tages das Haus übernehmen würde. In meinem vorherigen Theater hatte ich auch regelmäßig plattdeutsche Veranstaltungen im Programm. Eine starke Beziehung zum Platt gab es also schon viele Jahre.

War das ein Kriterium, als Sie zum Intendanten des Ohnsorg-Theaters berufen wurden?

Natürlich wurde danach gefragt. Aber das war nicht allein ausschlaggebend. Auch zwei meiner Vorgänger waren keine Native Speakers, sondern haben Platt erst gelernt. Das kann sogar ein Vorteil sein, weil man auch immer den Blick des Außenstehenden hat, der fragt: Bewegen wir uns zu sehr in unserer Community? Öffnen wir uns genügend in die Gesellschaft, die überwiegend kein Platt mehr spricht? Deshalb machen wir beispielsweise stückbezogene Einführungen in die plattdeutsche Sprache, hochdeutsche Übertitel, Webserien und auf unserer Studiobühne zweisprachige Aufführungen. Zudem sind wir regelmäßig in Hamburger Schulen mit unseren Klassenzimmer- und Schulhoftheaterprogrammen, bieten Workshops für Lehrer, einen Jugendclub.

Denn wir wollen uns nicht abgrenzen als plattdeutsche Gemeinschaft, im Gegenteil. Wir sind eine wichtige Farbe in der bunten Großstadt, als Teil der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Wir öffnen uns daher auch für andere sprachliche Einflüsse, für die Themen der heutigen Gesellschaft. Deshalb geben wir immer wieder neue Stücke in Auftrag. Viele ältere Stücke mit ihren früheren Rollen- und Frauenbildern und Moralvorstellungen kann man heute so nicht mehr spielen. Sie waren wie jedes gute Volkstheater zeitgemäß, aber für die damalige Zeit. Einige wenige Ohnsorg-Klassiker werden natürlich überdauern.

Gibt es in dieser Vielfalt eine neue Zuwendung zum Regionalen, auch zur Regionalsprache?

Ja. Man identifiziert sich mit den norddeutschen Charakteren, dem Menschenschlag, den Träumen und Sehnsüchten, die die Menschen im Norden haben. Der knorrige Charme, aber auch der trockene, wortkarge Humor finden sich in der Melodie der plattdeutschen Sprache wieder. Selbst Zuziehende wollen oftmals tiefer eintauchen in diese regionalen Besonderheiten. Deshalb haben wir mit unseren Kinder- und Jugendprogrammen gerade in Kitas und Schulklassen mit hohem Migrantenanteil besonders viel Erfolg, weil die sagen: Ach, das ist die Sprache, die für diese Region steht und viel mit den Menschen hier zu tun hat, die es sonst so in Deutschland nicht gibt. Das sind oft die Neugierigsten, obwohl sie eigentlich sprachlich davon am meisten entfernt sind.

Erlebt Heimat angesichts all der Bedrohungen in einer globalisierten Welt eine Renaissance?

Ja, die Regionalisierung ist eine Gegenbewegung zur Globalisierung. Die Menschen überschauen die ganzen internationalen Verwicklungen und Abhängigkeiten nicht mehr, aber sie verstehen und es interessiert sie, was vor der eigenen Haustür passiert. Volkstheater, wie wir es machen, erzählt oftmals Geschichten, die vor der eigenen Haustür passieren, in denen die Menschen sich mit ihren Themen, ihrer Umwelt, ihrem Humor wiederfinden, mit denen sie sich identifizieren können. Es nimmt sie auf fantasievolle Weise mit auf eine Reise zu den eigenen Wurzeln.

Volkstheater gilt jedoch als seichte Unterhaltung. Ärgert Sie das?

Das ist ein Vorurteil. Volkstheater ist keineswegs immer nur lustig. Das Leben und die Themen des Volkes sind sehr vielfältig. Die Art und Weise, wie wir sie erzählen, ist natürlich oft humorvoll. Aber auch das kann sehr unterschiedlich ausfallen. Es gibt auch sehr tiefgründigen Humor, und einen, der einem neben dem Lachen gleichzeitig Tränen in die Augen treibt. Wir präsentieren auch dramatische Stoffe mit norddeutscher Prägung. Das Vorurteil uns gegenüber ist dadurch entstanden, dass die ARD für die Samstagabend-Unterhaltung über viele Jahre in erster Linie die »Schenkelklopfer« aufgezeichnet hat, nicht die ernsteren Stücke, auch Stoffe der Weltliteratur, adaptiert auf Platt. Meine Eröffnungsproduktion als Intendant war »Romeo und Julia«, zweisprachig in Platt- und Hochdeutsch. Der Konflikt erzählte sich schon allein durch die unterschiedlichen Sprachen, weil die Familien der Liebenden sich nicht verstanden.

Weshalb wird nicht nur am Theater so scharf zwischen E und U unterschieden?

Das ist typisch deutsch. Wir müssen alles in eine Schublade stecken können. Viele Menschen verorten uns in der Schublade für leichte Kost, nicht wissend, dass unser Programm sehr vielfältig, vielschichtig, vielstimmig und vielfarbig ist.

Welche Bedeutung haben generell Humor, Lachen, Leichtigkeit im Theater?

Ich finde es völlig legitim, wenn jemand seine Sorgen und Probleme für zwei Stunden an der Garderobe abgeben und Spaß und Unterhaltung haben will. Auch dafür sind wir da. Aber wir bieten sehr viel mehr. Die Erfahrung zeigt, dass ernste Themen besser aufgenommen werden, wenn man sie mit leichter Hand erzählt. Die besten Momente im Theater sind zumeist die, in denen man nicht weiß, was als Nächstes passiert. Und wie es ausgeht.

Bevor Sie ans Ohnsorg-Theater kamen, waren Sie 19 Jahre Intendant einer Komödie. Hätte es Sie nicht gereizt, auch mal ein ernstes Theater zu leiten?

Damals gab es ab und an Verlockungen aus anderen Städten, die aber nie so überwältigend waren, dass es zu einem Wechsel kam. Bis dann der damalige Intendant dieses Hauses anrief. Das Ohnsorg ist das wohl bekannteste Theater in Deutschland. Es zu leiten ist eine ehrenvolle Aufgabe und zugleich eine große Herausforderung, dieses traditionsreiche Haus angesichts seiner früheren großen Erfolge weiterzuentwickeln und in die Zukunft zu führen – in einer sich stark und schnell verändernden Gesellschaft. Oft schwieriger, als etwas ganz Neues aufzubauen.

Wie hat Ihr Haus die Coronazeit überstanden?

Wir sind dank Fördermaßnahmen bisher mit zwei blauen Augen davongekommen. Wir haben während der Pandemie jede sich bietende Möglichkeit genutzt, um den Kontakt zu den Menschen zu halten, nicht nur digital. Als das Theater geschlossen werden musste, haben wir Open Air gespielt, in Schulen beispielsweise auf dem Pausenhof. Da die Folgen der Pandemie jedoch weiter wirken, sind zusätzliche Fördermittel nötig. Die Besucherzahlen steigen langsam wieder. Ich bin zuversichtlich, dass wir wieder das frühere Niveau erreichen.

Finden Sie noch genügend Platt sprechende Schauspieler?

Kaum noch. Deshalb bilden wird Nachwuchskräfte selbst aus und führen sie an die plattdeutsche Sprache heran. Auch das ist eine Herausforderung. Denn es ist für jeden Schauspieler nicht leicht, in einer anderen Sprache zu spielen. Es ist dasselbe wie beim Publikum und den Inhalten: Wir müssen Brücken bauen zu den nachwachsenden Generationen – lebendig und lustvoll.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.