Für die Elite der deutschen Hochschulen, der reichweitenstarken Medien und der hoch subventionierten Kulturinstitutionen bleibt Popmusik bis heute ein Kind. Noch junge universitäre Lehrstühle gibt es nur in der Peripherie – in Paderborn oder Oldenburg. In den wenigen sogenannten Pop-Akademien, etwa in Bochum, Mannheim oder Stuttgart, wird die Praxis und so gut wie keine Theorie vermittelt. Die Feuilletons brauchten ewig, bis sie endlich Pop-Redakteure einstellten, um viele davon schon bald wieder zu entlassen, weil 2001 die Zeitungskrise begann und die Budgets seither beständig sinken. Ein paar schlaue Theaterhäuser merkten zur gleichen Zeit, dass sie mit Popkonzerten die sinkende Auslastung nach oben korrigieren können. Und für einige unterbeschäftigte Musikerinnen und Musiker boten die Schauspielhäuser ein neues Arbeitsfeld, als sich viele Inszenierungen Ende der 1990er Jahre zu rhythmisieren begannen und Musik wieder mehr sein durfte als eine günstige akustische Überbrückung zwischen zwei teuren Bühnenbildern.
Neulich nannte ein stets kluger Kollege auf Social Media eine flapsige Formulierung eines andern Kollegen durchaus abwertend »Pop«. Auf meine Nachfrage, was er damit meine, fiel der Begriff »Kinderzimmer«. So hieß intern auch unser Büro einer großen Schweizer Tageszeitung Anfang der 2000er Jahre, in dem vier Pop-Affine saßen. Aber das war die kleine Schweiz. Deutschland hingegen ist weltweit der drittgrößte Popmarkt. Doch selbst hier hat sich Pop nie grundsätzlich erholt vom Diskussionsstand der 1950er Jahre, der Pop mit ungebildeter Jugend gleichsetzt. Und das liegt maßgeblich am Begriff der »Unterhaltung«.
Pop hat den Makel der Unterhaltung zwar nicht für sich gepachtet und als Rock’n’Roll setzt Pop auch erst Mitte der 1950er Jahre ein. In Deutschland kommt die neue Musik sinnigerweise über das Unterhaltungsmedium par excellence an: als Film im Kino. Bill Haleys »Rock Around The Clock« war 1956 zuerst im Film »Blackboard Jungle« zu sehen, bevor die Schallplatte erhältlich war. Und zu seinen Konzerten schickten die Zeitungen danach die Polizeireporter, das Feuilleton hatte einen freien Abend. Nicht umsonst lautete der deutsche Titel von »Blackboard Jungle« unmissverständlich »Saat der Gewalt«. Der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft waren die neuen Jugendkulturen völlig fremd.
Pop war halt keine Kunst, und das hatte weniger ästhetische als soziale Gründe. Wie sehr Massenkultur schon vor Pop den Dünkel der Herrschenden kitzelte, zeigt die Geschichte, wenn die höheren Bildungsschichten über Jahrzehnte das Populäre verachteten, egal ob konservativ-bürgerlich oder kritisch links. Gerade in der Ablehnung des »Leichten« kehrt der Versuch zurück, über Geschmacksgrenzen gesellschaftliche Ausschlüsse vorzunehmen. Was keiner höheren Bildung bedarf, um verstanden zu werden, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu diese Haltung kritisch beschrieb, hat keinen künstlerischen Wert. Es waren oder sind soziale Platzverweise auf dem Spielfeld der Kultur. Pop hat sich diesen roten Karten nicht einfach widersetzt, sondern sie sogar herausgefordert, als identitätsstiftende Abgrenzung.
In der gebildeten deutschen Linken kommt erschwerend das Erbe der Kritischen Theorie insbesondere von Theodor Adorno und seinen Schriften über das Populäre hinzu. Sein Aufsatz »On Popular Music«, 1941 im New Yorker Exil auf Englisch geschrieben, ist da besonders aufschlussreich. Adorno sieht die Liebhaberinnen und Liebhaber des Populären primär als Opfer der Verhältnisse, welche die »mechanized labor« hervorbringt – das Fließband führt zur Verblödung. Wer populäre Musik hört, so Adorno, will sich in seiner Freizeit von der langweiligen und doch anstrengenden Arbeit erholen und bevorzugt deshalb Musik, die anspruchslos bleibt. Es geht also um Unterhaltung, für Adorno bedeutet das immer »Standardisierung« von Formen.
Beinahe kommt Adorno Pop doch noch auf die Spur kommt, bevor es Pop gab. Das Besondere, das die Standardisierung zurückweise, müsse nicht zwingend melodisch sein, schreibt er. Es könne sich auch um kleine Unregelmäßigkeiten im Takt handeln, um einzelne erweiterte Akkorde oder, und jetzt kommt er der Sache wirklich nahe, um »particular sound colors«. Um »gewisse Klangfarben« geht es in der Tat im Pop. Um komische Geräusche, um die Intonation, um das Korn der Stimme, gerade weil im technologisch hochgerüsteten Pop auch schwache Stimmen zum Zug kommen – neben der starken von Elvis etwa die schwachen von Buddy Holly und Bill Haley. Die warenförmige, also standardisierte Musik ist bloß die Darreichungsform, nicht das Spezifische. Und im Pop geht es eben auch um die Bilder, wie schon ganz zu Beginn bei Bill Haley in Film, um verwirrende Posen und Gesten, die im Fernsehen gut aussehen und die Erwachsenen schockieren.
Doch im Pop geht es nicht nur um die Posen der Musikerinnen und Musiker, sondern auch um jene der Hörerinnen und Hörer. Die Abkehr von der autonomen Musik und die radikale Zuwendung zum Publikum definiert Pop als moderne Musik für die Massen. Die Konsumenten werden Teil der Unterhaltung, die sie genießen, ihre Körper verwandeln sich in Material für das Kunstwerk. Modern ist die Musik in dem Sinne, weil sie nur durch technologische Innovation so nahe zu den Konsumentinnen und Konsumenten kommen kann und die Schranke des Konzertsaals überwindet. Radio, Schallplatte, später Tape und Kassettenrecorder, Walkman bis zum iPod und zum mobilen Streaming über das Smartphone in die allgegenwärtigen Kopfhörer: Jeder technologische Innovationsschritt der letzten 100 Jahre hat die Musik näher an den Körper der einzelnen Hörerinnen und Hörer gebracht. Bis Haut und Nieren tatsächlich vibrieren, erst recht im Konzert, in der Disco, im Club.
Die Fans können dabei die Hauptrolle spielen. Als die Beatles im August 1965 im Shea Stadium in New York City spielen, warten 56.000 meist schrill schreiende Fans auf die jungen Briten. Zu hören sind die Beatles in der Folge so gut wie gar nicht. Die »Musik«kommt aus den Kehlen der Fans, sie produzieren rund 130 Dezibel. So viel wie ein Düsenjet, aber aus der Nähe. Die Beatles dagegen spielen auf ein paar Gitarrenverstärkern von je 100 Watt, der Rest läuft über ein lächerlich kleines Lautsprechersystem.
Das Medium, das diesen kommunikativen Gegenverkehr zwischen Künstler und Fan gut vorbereitet hat, ist seit 100 Jahren das Radio. Für Pop spielt Radio von Anfang eine entscheidende Rolle in der Aktivierung der Hörerinnen und Hörer. Viele Rock and Roll-Fanclubs organisierten sich in den 1950er und 1960er Jahren per Briefpost und zwangen die Radios zu einem anderen Programm. Die Fanclubs wurden übrigens zur Mehrheit von Frauen geführt. Und dass die Radios in den USA viel schneller auf den Druck der Basis reagiert haben, liegt an der frühen Liberalisierung der Radiolandschaft: Die kleinen, privaten amerikanischen Radiostationen hatten schlicht Angst vor ihren Hörerinnen und Hörern. In Deutschland dauerte es Jahrzehnte, bis die Öffentlich-Rechtlichen eigene Popwellen aufgeschaltet haben. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, gründete der WDR mit Eins Live sogar erst 1995 einen Popkanal.
Im Radio erhielt der Begriff Unterhaltung auf Deutsch erstmals seine zweite Bedeutung: Unterhaltung verstanden als Gespräch mit den Hörerinnen und Hörern und Fans, die man mit Spielen, Wettbewerben oder Musikwünschen am Programm teilhaben ließ. Unterhaltung als »Conversation mit der Crowd«.
Wenn es heute große Popnischen gibt, die nicht einzig auf dem freien Markt bestehen müssen und nur dank großzügig geförderter europäischer Festivals überleben können, wenn selbst Clubs dank staatlicher Unterstützung gut durch die Pandemie gekommen sind, verschiebt sich die Bedeutung von Unterhaltung nochmals stärker hin zum Gespräch und weiter weg von der leicht konsumierbaren Warenform, die die Adorniten so gestört hatte. Soziale Medien haben eine Nähe zu Popstars hergestellt, die im physischen Raum nie möglich wäre. Die Interaktion ist im Internet so direkt wie noch nie, oder zumindest scheinbar direkt. Und diese neue digitale Intensität der Unterhaltung sieht man mittlerweile den Liveauftritten auch an.
Popkonzerte sind heute oft eine Messe der weichen Gefühle, und nicht mehr eine Inszenierung der übermenschlichen Größe oder der schroffen Zurückweisung. Nick Cave, ein ehemals schroffer Performer, steigt seit ein paar Jahren auf einen der Bühne vorgelagerten Steg hinunter, berührt eine Hand nach der andern, verwuschelt dem Konzertfotografen die grauen Locken, lässt sich den Oberkörper stützen und das Mikrofon halten beim Kuscheln mit der ersten Reihe. Die Sängerin Lorde erzählt ausgiebig aus dem Nähkästchen zwischen den Songs und zeichnete einem Fan schon einmal eine Vorlage für ein Tattoo auf ein Blatt Papier, während das Piano fünf Minuten lang das Intro des nächsten Songs klimpert. Der britische Popstar Harry Styles hilft in Hamburg – und jeder anderen Stadt – einer jungen Person in einem vollen Fußballstadion beim Coming Out. Und Billie Eilish, der größte Popstar der Welt, ruft die Security, wenn sie denkt, dass es in den ersten engen Reihen jemandem vielleicht nicht so gut geht. Die Unterhaltung im Sinne eines Gesprächs muss achtsam sein, und dafür nehmen die Künstlerinnen und Künstler sogar Pausen und Lücken in Kauf, die dem alten Begriff der Unterhaltung, die wie »am Schnürchen« abläuft, in den Weg kommt.
Doch es gibt auch Grenzen: Als Nick Cave in Berlin im Sommer 2022 sich in die erste Reihe fallen ließ, die ihn stützte, schaute er beim Singen kurz an sich herunter, pausierte und sagte dabei nicht unfreundlich, aber doch deutlich: »Put your fucking phone away.«