Der ARD ist diese Unterhaltungsshow die wichtigste in ihrem ganzen Fernsehjahr: Der Eurovision Song Contest (ESC) garantiert das, woran es diesem Sender sonst gebricht: Publikum über viele Stunden mit sonst, abgesehen von Fußballländerspielen, nie erreichbaren Marktanteilen. Vor allem, und darauf kommt es an, bei Menschen, die das 49. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Junge Menschen, Millionen von ihnen noch nicht volljährig. ESC, wie das Kürzel für diesen Abend knapp lautet, ist, wenn an einem Abend irgendwie alle zugucken und mitfiebern – generationenübergreifend.
Die Wertschätzung war nicht immer vorhanden. Die ARD hat diese Show wenigstens über die meisten Jahre seit 1956 eher beiläufig und selten mit liebevoller Fokussiertheit inszeniert und in ihren Programmen zelebriert. Denn die Show aus gut zwei Dutzend im Populären angesiedelten Liedern an einem Abend – an einem Samstag zur Primetime! – bietet den Stoff, aus dem die Träume sind. Mit einer Zutat, von der auch Liveübertragungen im Sport leben, quasi die Hefe im sonst mürben Sendeteig: Man weiß am Anfang nicht, wie es endet – das heißt, man fiebert von der ersten Minute an mit, live und beim ESC sogar mit der Chance zur (Televoting-)Mitbestimmung über die Lieder.
Dabei hatten eben diese Dimension – wer gewinnt, wer landet unter ferner liefen? – die Erfinder des ESC nicht gerade im Sinn. Mitte der 1950er Jahre war das Fernsehen noch ein junges gesellschaftliches Kommunikationsmittel, selbst das Radio hatte noch lange nicht seine heutige Allpräsenz erreicht. Die Programmverantwortlichen der European Broadcasting Union (EBU), das Netzwerk der aus dem im freien Westen stammenden TV- und Radiostationen öffentlich-rechtlicher Art, den Wunsch, ihr Medium, eben das Fernsehen, auch übernational zu popularisieren, seine technischen Mittel, zumal übernational zu testen und weiterzuentwickeln. Zu den Ideen gehörte die Übertragung eines Zirkusfestivals, – aber am Ende zündete der Vorschlag des italienischen Kollegen der dortigen RAI, es mit einer Art Musikfestival zu probieren, so wie an der Riviera in San Remo mit dem dort angesiedelten Canzone-Festival. Über die Lieder eurovisionärer Art sollte abgestimmt werden, damit für Spannung gesorgt wird. Der Trick: Votiert werden durfte nicht für den Act, das Lied, die Darbietung des eigenen Landes, sondern nur für die anderen. Begonnen werden sollte jede Eurovisionsübertragung mit einem musikalischen Zeichen, man entschied sich für eine Passage aus der Komposition »Te deum« des französischen Tondichters Marc-Antoine Charpentier: Generationen hat dieser Klingelton zur eurovisionären »Blume« als Signet Millionen signalisiert, jetzt wird es international.
Der erste ESC fand unter dem Titel »Gran Premio Eurovisione Della Canzone Europea« in Lugano, Schweiz, statt, am 24. Mai 1956. Im Teatro Kursaal gewann die Schweizerin Lys Assia, eine zu ihrer Zeit auch in Deutschland ziemlich bekannte Sängerin. Nur sieben Länder machten mit, neben der Schweiz die Gründungsländer der späteren EU, Niederlande, Luxemburg, Belgien, Frankreich, Italien und Deutschland, für das der Chansonsänger Walter Andreas Schwarz und der am Anfang seiner späteren Legendenhaftigkeit stehende gebürtige Österreicher Freddy Quinn.
Seit 67 Jahren findet dieser schließlich zur Chiffre ESC geronnene Wettbewerb statt, nur einmal, 2020, fiel er aus, die Coronapandemie war der Grund. Teilnehmen dürfen alle öffentlich-rechtlichen Sender, die der EBU angehören, überwiegend alle, die in den Grenzen des Europarats liegen, aber auch die meisten südlichen und östlichen Anrainer des Mittelmeers, etwa der Libanon, Ägypten oder Marokko, aber die verzichten, weil – so geht Politik – Israel auch mitmacht. Australien ist seit 2005 ebenfalls mit von der Partie – mit einer Ausnahmegenehmigung.
Der ESC gilt unter TV-Produzenten format- und marktbewusst als »unkaputtbar«: Alle Zutaten eines ESC ergeben zusammen ein Paket, an das kein anderes Showformat des Alltags heranreicht. In den meisten Ländern, die am ESC teilhaben, markiert diese Show Einschaltquoten, die über 50 Prozent liegen: Man will einfach miterleben, wie das eigene Land im Konzert aller abschneidet, wer es begünstigt, missachtet, schneidet oder streichelt. Deshalb ist am wichtigsten dabei die Prozedur der Punktevergabe, die ein Drittel der Sendezeit einnimmt – und den eigentlichen Thrill verkörpert. Länder stimmen über andere Länder ab. Das wird selbst bei Zuschauern rezipiert, die mit dem Act des eigenen Landes unzufrieden sind: Die Identifikation mit dem eigenen Land funktioniert hundertprozentig.
Insofern ist es für die Länder – und das Publikum dort jeweils – oft nicht das Entscheidende, ob das eigene Lied gewinnt – alle wissen, dass das, wenn überhaupt, selten gelingen kann, die Konkurrenz ist prinzipiell übermächtig –, sondern ob man Letzter wird. Portugal, Österreich, Finnland, Norwegen und Deutschland haben dieses Los öfter erleiden müssen: Kein Wunder, dass in diesen Ländern die Medienberichterstattung am Tag nach dem Wochenende oft nur wenige, oft enttäuschte Stimmen kennt: Was haben wir falsch gemacht?, Warum liebt Europa uns nicht?, Europa ist gemein!, oder, gern in Deutschland nach letzten Plätzen artikuliert, nicht nur in Boulevardblättern: Deutschland hat in Europa keine Freunde!
Anders formuliert: Nicht viele Länder vermögen es, wie etwa Schweden mit einer mainstreamorientierten Popindustrie, jedes Jahr beim ESC wenigsten keine Blamage zu erleiden. Jedes Land, und das gehört zur politischen wie kulturellen Geschichte dieser populärsten Kulturshow des Jahres in Europa, musste lernen, im eurovisionären Konzert nicht als langweilig und konfektionär wahrgenommen zu werden. Öffentlich-rechtliche Sender hatten bis in die 1980er Jahre in ihren Unterhaltungsabteilungen mehr Volkspädagogen als Showpioniere, mehr Verantwortliche, die sich auf Belehrung verstanden als auf die Organisation von Glamour auf hohem Niveau. Finnland, seit den frühen 1960er Jahren dabei, beispielsweise, fantasierte damals, man müsse ein hochkulturell anschlussfähiges Lied zum ESC delegieren – so tüftelte man an hoher Lyrik im Gewand von einer Art trister Mollkomposition: Und landete unter ferner sangen … Der ESC aber ist Show, ist das Entertainment der Verführung anderer Länder und ihrer Zuschauer zur Zustimmung. In Deutschland hielt sich jahrzehntelang auch das Gerücht, der Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er hierzulande firmiert wurde, müsse dem Anliegen von Anspruch und Delikatesse genügen. Deutschland brauchte sehr viele Jahre, um Pop zu verstehen, ganz im Sinne Bertolt Brechts: Das Einfache, das schwer zu machen ist.
Das politische Wunder, falls man das mal so formulieren darf, am ESC ist allein schon, dass elf Jahre nach dem kriegsstiftenden Nationalsozialismus die Bundesrepublik überhaupt an einem Wettbewerb wie dem ESC teilnehmen durfte. Dass am ESC merkbar war, wie sehr manche Länder durchaus antipathisch auf Lieder aus anderen Ländern reagierten, mit denen man nicht in gleichmütiger europäischer Nachbarschaft lebt. Aus den Niederlanden gab es sehr wohl starke Zurückhaltung, in den ersten ESC-Jahren Acts aus Deutschland Punkte zukommen zu lassen. Aserbaidschan und Armenien ignorieren sich sowieso seit Jahren, ob ihre Lieder im jeweils anderen Land gefallen oder nicht: Man befindet sich im Kriegszustand miteinander. Politisch ist ebenso, wie auffällig intensiv alle Länder, die nicht mehr mit einem Eisernen Vorhang getrennt vom »Westen« Europas sich sofort bemühten, am ESC teilnehmen zu dürfen, 1994 waren die ersten, ex-sozialistischen Sender – damals in Dublin – am Start: Russland, Ungarn, Rumänien, Polen, Estland und Litauen.
Politisch ist auch, dass der ESC weiterhin die Türkei vermissen muss; eine queere Kunstfigur wie Conchita Wurst, triumphale österreichische Siegerin 2014, ließ die anatolischen TV-Funktionäre plötzlich homophob werden – an einem solchen Wettbewerb mit Frauen, die Bärte tragen, wolle man nicht mehr mitmachen. Politisch ist selbstverständlich auch, dass es politische Aversionen untereinander kaum noch gibt. Die Musik aus Serbien klingt prinzipiell nicht anders, besser: Sie klingt nicht mehr extra balkanorientiert, sondern wie eben Popmusik heute sein kann: divers, klanglich unendlich verschieden, performativ so gut wie nie mehr lokal verhaftet. Trugen früher Sängerinnen sehr oft lange Abendkleider, die Herren im Anzug, manchmal im Smoking, so nimmt sich heutzutage ein ESC wie eine Leistungsshow modernen europäischen Entertainments aus, mit buchstäblich allen stilistischen Facetten, die in den europäischen Mainstream oder ihren Undergrounds gängig sind – oder als modische Erscheinung bereits zu gären begonnen haben.
ESC heißt auch, die letztjährige Übertragung aus Turin mit dem überwältigenden Televoting-Sieg, ein Solidaritätszeichen!, des ukrainischen Acts des Kalush Orchestra – »Stefania«, ihr Titel –, bezeugte das, dass ein so mainstreamiges Format wie dieses Eurovisionsfestival ausdrücklich sich auf die Ethik von Diversität und Wertschätzung verständigt hat. Hass und Arroganz sind moralisch verboten, Beifall erhält im Gegenteil, wer beispielsweise queer performt oder ästhetisch Risiken wagt.
Andere Unterhaltungsformate haben vom ESC viel lernen können, und sie tun es noch. Das Element der Spannung, also der Kunst, einer Show ein Element der Partizipation – Televoting – und des Wettbewerbs beizumengen, hat beim ESC fast als Modus des Avantgardehaften immer funktioniert. Was alle TV-Unterhaltungsformate allerdings nur ungern »lernen« wollten, war dies: die Internationalität zu fördern – beim ESC ja zwangsweise, denn ein Zuschauer etwa in Südtirol kennt, abgesehen vom italienischen Act, niemanden von den Künstlerinnen und Künstlern aus anderen Ländern. ESC ist mithin der inzwischen 67 Jahre währende Versuch, dass sich das jeweils heimische Publikum mit ästhetischem Stoff aus anderen Ländern auseinandersetzt. Das ist für die atmosphärische Friedensliebe in Europa, zumal nach 1945, im Kontext der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und des russischen Angriffs gegen die Ukraine kein schlechtes Resultat.
Das Finale dieses Jahr hätte in der Ukraine stattfinden sollen, die Europäische Rundfunkunion (EBU) lehnte dies aber ab, zu unsicher sei die Kriegssituation selbst in Kiew. In Liverpool – das United Kingdom schaffte es voriges Jahr auf den zweiten Platz – gibt es einen ukrainisch gewirkten Exil-ESC, den 67. seiner Geschichte. Es wird wie immer. Spannend, glamourös, nichtig – und richtig.