Wer kennt sie nicht, diese Redensart »Müsst ihr denn immer streiten«? Streit hat sehr oft eine negative Konnotation: Ein Streithammel ist jemand, der keine Ruhe gibt, der immer wieder erneut Streit sucht. Streithähne verhaken sich immer wieder aufs Neue und lassen vom Konflikt nicht ab.
Für Zeitungen, Nachrichtenmagazine, Radioformate, aber auch Fernsehsendungen, speziell Talkshows, gibt es nichts Besseres als einen ordentlichen Streit. Frei nach dem Motto »Regierung ist zerstritten über das und jenes« oder auch »Keine Einigung in der Ampel zum Thema X«. Und dies alles wird garniert mit der Aufforderung, sich endlich mal vernünftig zu einigen und aufeinander zuzugehen.
Doch was gibt es vermeintlich Langweiligeres als einen Kompromiss. Ihm, dem Kompromiss, haftet der Geruch des Nachgebens, des Einknickens, oft gar von etwas Faulem an. »Fauler Kompromiss« ist so eine stehende Wendung.
Streit gehört neben Liebe und Tod zu den beherrschenden Themen oder auch Motiven der Literatur, und zwar nicht nur in Romanen oder Erzählungen, sondern ebenso in Bühnenstücken und Drehbüchern. Was treibt eine Geschichte voran? Die Liebe zwischen zwei oder vielleicht auch drei Protagonisten, der Liebesstreit, weil A mit B nicht zusammenkommen kann oder darf; denken wir etwa an Tristan und Isolde oder auch Romeo und Julia, an den Streit um den Frauenraub oder weil A B die Frau ausspannt, denken Sie an den Kampf um Troja, den Streit, weil B von A hintergangen wurde, wie z. B. im Nibelungenlied, Brunhild von Gunther getäuscht wurde, woraus ein furchtbarer Streit der Könige auf der Treppe des Wormser Doms entbrannte, der in seiner letzten Stufe zur furchtbaren Rache Kriemhilds führte.
Zu nennen sind die vielen Ehebruchgeschichten, die den Streit und die Auseinandersetzung angetrieben haben und nicht selten zum Tod führten: Geschichten von Madame Bovary, Effi Briest, Anna Karenina und viele andere mehr. Auch in aktuellen Büchern, Filmen oder Theaterstücken sind oft die Streitthemen, die Auseinandersetzungen, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Erzählungen oder, wie heute formuliert wird, Narrative, die die Geschichte vorantreiben, die die Verwicklungen, die Abgründe bis hin zu Hass und Mord zeigen.
Der Streit scheint uns Menschen innezuwohnen. Ein Roman, ein Film oder ein Theaterstück ohne Streit oder sagen wir ohne Konflikt ist blutleer. Wenn Streit uns so sehr bestimmt und unserer Kultur innewohnt, wo sind denn die Grenzen des Streits oder anders gesagt: Gibt es überhaupt Grenzen? In der Kunst findet der Streit seine Grenzen sehr oft im Tod, oft gewaltsam, eines der Protagonisten. Doch diese Eskalation, die zwar im Theater als moralischer Anstalt funktionieren kann, ist wenig tauglich für das Alltagsleben oder auch für Politik.
Gerade in der Politik ist der Streit oder sagen wir als Stufe darunter die Auseinandersetzung unverzichtbar. Politische Parteien unterscheiden sich durch unterschiedliche Vorstellungen darüber, was der beste Weg für das Land oder auch die Kommune ist. Das Ringen um diesen besten Weg, die Auseinandersetzung – auch streitlustig – um diesen Weg ist in demokratischen Gesellschaften unverzichtbar. Sie unterscheiden sich gerade hierdurch von Diktaturen oder auch illiberalen Demokratien.
In Diktaturen und illiberalen Demokratien werden abweichende Meinungen unterdrückt, sie dürfen nicht publiziert oder gesendet werden, sie werden von den Bühnen und Leinwänden verbannt, sie werden nicht gedruckt oder zumindest nicht öffentlich zugänglich gemacht.
Liberale, freiheitliche Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Meinungsstreit aushalten, dass das Ringen um den besten Weg sie konstituiert, dass auch abweichende Meinungen, solange sie sich im Rahmen der Gesetze bewegen, ausgehalten werden müssen.
Letzteres kann schwer sein, bis zur Grenze des Erträglichen reichen, aber solange rechtsstaatliche Prinzipien, zu denen beispielsweise die Achtung der Menschenwürde gehört, eingehalten werden, müssen sie ertragen werden bzw. müssen sie sich dem Meinungsstreit stellen. Dazu gehört auch, sich gegen Meinungen zur Wehr zu setzen bzw. zu demonstrieren.
Wo sind nun die Grenzen des Meinungsstreits? Sie finden sich im Grundgesetz. Verletzungen der Menschenwürde sind nicht durch Meinungsstreit oder auch Meinungsfreiheit gedeckt, Jugendschutzbestimmungen grenzen ein, Antisemitismus und Holocaustleugnung sind, davon bin ich fest überzeugt, keine Meinung. Sie gehören nicht zum Meinungsstreit, ihnen muss entschieden entgegengetreten werden.
Auch im Deutschen Kulturrat gibt es immer wieder Streit. Seine 265 Mitgliedsverbände bilden eine große Bandbreite an Meinungen, Positionen und Interessen ab. Aus diesen teils sehr widerstreitenden Meinungen einen Kompromiss zu erarbeiten ist meine Kernaufgabe als Geschäftsführer des Verbandes.
Am Anfang steht sehr oft der Streit. Nicht der Streit um richtig oder falsch, sondern der Streit um Interessenlagen. In der zweiten Phase geht es darum, die jeweils andere Position zu verstehen, die Hintergründe zu erkennen, teils auch die dahinterstehenden Zwänge, seien sie ökonomischer oder anderer Art zu begreifen. Und schließlich kommt die Königsdisziplin: einen Kompromiss zu formulieren, einen Kompromiss, der die verschiedenen Interessen oder auch Schmerzgrenzen respektiert, einen Kompromiss, der aus der Vielzahl an Meinungen und Positionen etwas Drittes, Gemeinsames herausarbeitet.
Sehr oft bildet für einen solchen Kompromiss ein Streit, gerne auch pointiert, die Voraussetzung. Je klarer die Positionen formuliert werden, desto einfacher kann abgeschätzt werden, wo Kompromisslinien gefunden werden können. Eine weitere unverzichtbare Voraussetzung für einen Kompromiss ist die Bereitschaft, sich überhaupt auf einen Kompromiss einzulassen. Verhandlungsbereitschaft. Bereitschaft, die Interessen der anderen Partei anzuerkennen.
Ein ausgehandelter Kompromiss, der diese Voraussetzungen berücksichtigt, ist tragfähig und kann gegenüber Politik und Verwaltung vertreten werden. Er ist eben kein »fauler« Kompromiss, sondern das Ergebnis einer ernsthaften Auseinandersetzung um den besten Weg.
Streit und Kompromiss gehören zwingend zusammen. Ohne Streit kein Ringen um die beste Lösung. Und ohne dieses Ringen keine beste Lösung, die alle das Gesicht wahren lässt, der Kompromiss.
Der folgende Schwerpunkt zur Streitkultur ist mithilfe der Franckeschen Stiftungen zu Halle entstanden, die ihre Jahresausstellung dem Thema »Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute« widmen. Insbesondere danke ich hier Holger Zaunstöck für seine Unterstützung.