S prachliche Heuristiken fürs Schimpfen und Fluchen gibt es in allen Kulturen. Verbale Aggression gehört zum Phänomen natürliche Sprache. Es gibt Kulturen beziehungsweise Sprachgemeinschaften, bei denen das Schimpfen sehr stark ausgeprägt und elaboriert ist. Diese Gesellschaften haben entweder einen sehr reichen Wortschatz an Kraftausdrücken oder verfügen über diverse verbale Aggressionsstrategien, die dann im Sprachgebrauch häufig bemüht werden. Daneben gibt es solche Kulturen, wo das Ganze sehr subtil abläuft; aber verbale Aggression gibt es allenthalben. Das Deutsche liegt hier wohl im Mittelbereich.
Die beiden hauptsächlichen Aspekte beim Schimpfen sind zum einen das Be-Schimpfen, also das verbale Erniedrigen und Verletzen eines Menschen oder einer ganzen Personengruppe. Zum anderen ist das – oft unkontrollierte – Fluchen ein Ausdruck der eigenen Ohnmacht in einer unglücklichen Situation.
Beide Erscheinungsformen sind Beispiele für sogenannte expressive oder emotionale Sprache. Der Homo loquens braucht diese sprachlichen Ausdrücke, sei es für die Kommunikation, für die Kognition und auch für seine Psychohygiene. Und dazu müssen sich die entsprechenden lexikalischen Einheiten (Wörter) und sprachlichen Strategien auch eignen. Sie eignen sich aber nur, wenn ihnen eine gewisse Kraft innewohnt, wenn sie unsere Psyche ansprechen, Gefühle auslösen, Emotionen wecken. Das funktioniert dann, wenn Tabus berührt, wenn Grenzen überschritten werden. Deshalb stammen Schimpfwörter und Fluchausdrücke immer aus Tabubereichen. Tabus bestimmen die moralischen Grenzen oder solche von Angst und Ekel bis hin zu Phobien. Die Sprachwissenschaft spricht bei der Provenienz entsprechender Ausdrücke von Quell- oder Spenderbereichen. Die wesentlichsten dabei sind der skatologische – also alles auf Exkremente und Fäkalien Bezogene: Arsch, Mist, Scheiß(e), Piss-, beschissen. Weiterhin einschlägig ist ganz klar der sexuelle Bereich: Fotze, Hure, (Schlapp-)Schwanz, Wichser, Schwuchtel. Außerdem zählt der religiöse Bereich dazu: (zum) Teufel, Kruzifix, verflucht, verdammt. In Kulturen, wo Glaube und Religion fester verankert und deshalb stärker tabuisiert sind, haben Kraftausdrücke religiöser Provenienz normalerweise eine weitere Verbreitung. Eine vierte Gruppe sind krankheitsbezogene und dabei lebensbedrohliche Ausdrücke. Im Deutschen lassen sich hier eher weniger Beispiele finden: Pest(-beule), Krätze, Schuft – vielleicht auch Alki. Dem zuzurechnen ist wohl aber auch der Bereich der körperlichen und geistigen Mängel, der wiederum sehr produktiv oder prominent im Deutschen ist: Spast(i), Idiot, Hirni. Aus der diachronen Lexikologie wissen wir, dass Ausdrücke ursprünglich körperlicher Unzulänglichkeiten zu solchen der geistigen Schwäche wurden: blöd (Blödmann) hieß schwach, doof (Doofi) meinte taub. Ein weiterer großer Quellbereich ist das Tierreich: Ochse, Zicke, Sau. Tiere, zumal Haustiere, stellen erst einmal kein Tabu dar. Allerdings ist das Zum-Tier-Machen einer Person ganz klar eine Erniedrigung, der Verkehr, das Mit-und-unter-Tieren-Leben und ganz deutlich der Geschlechtsverkehr mit Tieren ist ein extremes Tabu.
In der Tat ist festgestellt worden, dass das Deutsche eine Sonderstellung dahingehend einnimmt, dass das Fäkale der bedeutendste Quellbereich ist. Beim Fluchen ist das häufigste Wort Scheiße, bei manchen Kacke, etwas abgemildert als Mist oder eben als Modifikator wie Scheißding, Scheißkerl, Scheißdreck usw. Beim Beschimpfen ist es Arsch oder noch gröber Arschloch. Im gestischen Bereich gibt es den Stinkefinger. Zu dieser Beobachtung gibt es Erklärungsversuche. Vorfreudianisch und dann erst recht auch von Freud beeinflusst, geht die Logik so: Gesellschaften machen wie Individuen eine Entwicklung durch. Die »gesunde« Sexualität steuert auf die heterosexuelle Konstellation, die den Fortbestand der Art sichert, zu. Auf dem Weg dahin wird nach der oralen die anale Phase durchlebt. Als anale Phase bezeichnet man in der Psychoanalyse einen sehr frühen Lebensabschnitt, in dem das Ausscheidungsorgan libidinös besetzt ist. Nach dieser Logik sind die Deutschen in einem unreifen Entwicklungsstadium stecken geblieben. Das ist natürlich Volkspsychologie aus dem 19. Jahrhundert und aus heutiger Sicht nicht haltbar. Dennoch hat sich diese Sicht in manchen Kreisen bis spät ins 20. Jahrhundert gehalten. Eine etwas zweifelhafte Berühmtheit errang der US-amerikanische Ethnologe Alan Dundes mit seinem Werk »A Portrait of German Culture Through Folklore« zur Analfixierung der Deutschen. Das Werk dazu erschien 1984, in der deutschen Übersetzung ein Jahr später. Dundes konstatiert eine Störung der deutschen Volksseele und gibt einen kompensatorischen Reinlichkeitswahn als Gegenstück zur Faszination am Exkrementellen als Grund für die überproportionale skatologische Lexik bei emotional wichtigen Ausdrücken an. Der deutsche Romanist und Autor Hans-Martin Gauger weist das in »Das Feuchte und das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache« zurück und liefert eine vielleicht unbefriedigende Erklärung, die der Wahrheit wohl aber nahekommt und die hier untermauert werden soll, falls das für diese schwache Explikation überhaupt möglich ist: Zufall oder Kontingenz. Erklärbar ist die Wahl des Quellebereiches: Tabus. Welches der potenziellen Lexikfelder dann aber zum hauptsächlichen wird, kann variieren. Das Sexuelle bietet sich an und liefert den meisten Sprachgemeinschaften in unserer Nachbarschaft das Material. Sehen wir uns die dem Deutschen verwandten germanischen Sprachen an, zeichnet sich folgendes Bild ab: Im anglophonen Bereich (Englisch) ist das Sexuelle dominierend, so auch im Niederländischen. Diese uns am nächsten stehende Sprachgemeinschaft wiederum hat aber einen ähnlichen Außenseiterstatus: Die ebenfalls zweitprominenteste Quelle ist da der Krankheitsbereich: Lexikalische Elemente wie Pest, Krebs, Pocken, Typhus tauchen da verstärkt – bei uns und den anderen Nachbarn aber quasi gar nicht – auf. Die skandinavischen Sprachen haben als Hauptquelle religiöse Lexik: Satan, Teufel, Hölle, verflucht/verdammt. Niemand würde heute ernsthaft einen besonders ausgeprägten Hang zum Überirdischen bei den Nordeuropäern ausmachen. Wenn diese uns nahestehenden Sprach(-kultur)enschon derart differieren, scheint der Rückschluss vom Schimpfwortgebrauch und Nationalcharakter oder »Volksseele« abenteuerlich. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass Fäkales in all diesen Sprachen ebenfalls eine große Rolle spielt, wenn auch nicht die größte: shit und asshole/arsehole kommen im Englischen durchaus nicht selten vor; Gleiches gilt für die nordischen Sprachen oder, wie Gauger deutlich macht, auch für das französische merde.
Als Schlusswort eines Beitrags zu einer Textsammlung zum Thema »Hygienekultur« sei aber bei der Thematik Schimpfwörter auf Folgendes verwiesen. Schimpfen oder Fluchen gilt oft als Ausdruck von mangelnder Bildung und fehlendem Anstand. Allerdings muss man wissen, dass verbale Aggression einen immensen kulturellen Fortschritt darstellt, indem sie bis zu einem beachtlichen Grad physische Gewalt ersetzt oder sublimiert. Fluchen leitet Aggression ab, reagiert auf Frust mit sprachlichen Äußerungen und leistet somit Psychohygiene zum Wohle der Fluchenden selbst als auch aller anderen Beteiligten.