Was haben Hygiene und Kultur eigentlich miteinander zu tun? Geht es bei der Hygiene nicht um den Körper, um Gesundheit, den Schutz vor Erkrankungen, und bei der Kultur um die Künste sowie vielleicht – mit dem weiten Kulturbegriff der UNESCO – noch um die Art des Zusammenlebens?

Ich bin fest davon überzeugt, dass Hygiene und Kultur eng miteinander verbunden, wenn nicht gar aufeinander bezogen sind. Erst kürzlich wurde bekannt gegeben, dass in Israel bei einer Ausgrabung ein Läusekamm gefunden wurde, der auf einen Zeitraum von 1.700 Jahre vor Christus datiert wurde – also gut 3.700 Jahre alt ist. Das Besondere an diesem Kamm ist die Inschrift, im Übrigen der älteste erhaltene Satz in einer kanaaitischen Sprache. In dieser Inschrift wird formuliert, dass der Kamm Läuse in Bart und Haaren ausrotten möge. Der Kamm stammt wohl ursprünglich aus Ägypten – ein Verweis auf die engen Handelsbeziehungen in der Levante – in seiner Form unterscheidet er sich nur wenig von den heute verwendeten Läusekämmen. Der Kampf gegen Kopfläuse ist also ein jahrtausendealtes hygienisches Problem. Reinheit ist nicht nur ein Begriff der Hygiene, es ist ein Begriff, der eng mit Kult, mit Kultus, mit Religion – letztlich mit Kultur verbunden ist.

Ein fester Bestandteil sehr vieler religiöser Rituale, egal ob mono- oder polytheistisch, ist die rituelle Reinigung – mit Wasser, mit Ölen, mit Rauch, mit Dampf. Die rituelle Reinigung dient zur Vorbereitung auf Ereignisse, Feste oder auch auf das Gebet. Sie bezieht sich auf Körper und Geist. Die Reinigung des Körpers bereitet die Reinigung des Geistes vor. Körper und Geist sind in den Ritualen eng miteinander verbunden. Den Gegensatz zur Reinheit bildet die Unreinheit, die sich je nach religiösem Kontext auf Berührungen, Kontakt mit unreinen Gegenständen oder Personen bzw. auf natürliche Vorgänge, wie z. B. Geburt oder Menstruation, bezieht.

Die Unterscheidung von rein und unrein in religiösen Kulten findet eine Entsprechung in der Kultur. Wenn etwa zwischen Schmutzliteratur und der »wahren« Literatur unterschieden wird, wenn manche Kunstformen, wie lange Zeit Pop- oder Rockmusik, Comics oder auch Computerspiele, in die »Schmuddelecke« gestellt werden. Noch schmutziger ist Pornografie in Wort, Bild oder Film. Bereits in der Sprache, in Worten wie »schmutzig«, »Schmuddelkunst« wird die Parallele zum natürlichen Dreck und Schmutz gezogen.

In der Kunst wird teils der Reinheit gehuldigt – so oft in religiösen oder religiös konnotierten Werken –, aber auch die Unreinheit, oder besser gesagt das Verderbte, gefeiert. Man denke etwa an die Walpurgisnacht in Goethes Faust, an Bilder von Hieronymus Bosch, an Filme von Pasolini und anderes mehr. Reinheit ist ohne Unreinheit nicht denkbar, beide sind aufeinander bezogen.

Hygiene, oder sagen wir besser Reinheit, hat noch weitere Implikationen. Die Lebensreformbewegung, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildete, entwarf ein Gegenbild zum Leben in der Stadt, das mit Krankheit, Enge, sittlichem Verfall assoziiert wurde. Die Lebensreformer, zu denen so unterschiedliche Gruppierungen wie die Naturheilkundebewegung, die Kleidungsreformbewegung, aber auch Architekten und Stadtplaner gehörten, verschrieben sich einem »natürlichen« Leben, das als reiner und hygienischer galt als das verdorbene Großstadtleben. Der Weg zur Rassenhygiene während des Nationalsozialismus war für einige Lebensreformer nicht weit.

Hygiene hat im Kulturbereich in den letzten drei Jahren noch eine weitere Bedeutung erhalten. Die Coronapandemie hat dazu geführt, dass zum Schutz der Bevölkerung vor einer Ansteckung mit Covid-19 Kultureinrichtungen geschlossen wurden. Fragen nach der Belüftung von Kultureinrichtungen, nach Leitsystemen, die zu möglichst wenig Kontakten führen und nicht zuletzt nach Aufführungsformaten, die den Kontakt minimieren, wurden erstmals aufgeworfen und führten zu starken Veränderungen. So mancher Inszenierung und manchem Film sieht man die Coronabedingungen in dem Vermeiden von Berührungen an.

Die Coronapandemie hat auch einer der meistgebrauchten kulturellen Gesten in unserem Kulturkreis, dem Händeschütteln zur Begrüßung, zum Schutz vor der Übertragung von krankmachenden Viren ein zumindest zeitweises Ende beschert.

Egal ob in der Kunst, in der Religion oder ganz einfach beim Saubermachen, es gilt stets, das richtige Maß zwischen Reinheit und Unreinheit zu finden. Ich kann mir gerade die Kunst ohne die Abgründe, das Dreckige und Schmutzige nicht vorstellen. Sie wäre porentief rein, ganz ohne die Verderbnis, furchtbar langweilig. Insofern sind Reinheit und Unreinheit die notwendige Divergenz unseres Lebens.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.