Was müssen wir eigentlich untersuchen, um ein Comic zu erforschen? Lino Wirag hat dazu in seiner 2016 erschienen Dissertationsschrift zu einer möglichen Comic-Entwurfsforschung »Comiczeichnen: Figuration einer ästhetischen Praxis« eine eindrucksvolle Allegorie geschaffen. In einem Gedankenexperiment arbeiten Forscherinnen und Forscher in verschiedenen Labors daran, ein ganz bestimmtes ästhetisches Artefakt, eben ein Comic, besser zu verstehen. Im ersten Zimmer ist man historisch zugange und untersucht zusammengetragene Skizzen, Dokumente und Aufzeichnungen: Wo wurde der Stift zuerst angesetzt, was wurde verändert und korrigiert, welche Entscheidungen haben es durch das Tuschen bis in die Reproduktion geschafft? Im Zimmer daneben gibt man sich damit nicht zufrieden und versucht stattdessen, den Vorgang des Zeichnens mithilfe einer Künstlerin zu wiederholen und ästhetisch zu rekonstruieren. Unter genauer optischer Beobachtung soll das Experiment enthüllen, wie wirklich gezeichnet wurde und wird. Im dritten Zimmer wiederum interessiert man sich nicht für körperliche, sondern für kognitive Prozesse. Mit einem Kernspintomografen möchte man herausfinden, welche Hirnareale beim Lesen und beim Schaffen eines Comics beteiligt sind: Ist das Sprachzentrum etwa auch beim De- und Encodieren der Bildfolgen aktiv? Der vierten Forscherin führt dies weiterhin an den »eigentlich« relevanten Fragen vorbei, sie interessiert sich für Einflüsse, Vorbilder und Traditionen. Sie versucht also nachzuweisen, in welchem künstlerischen und sozialen Umfeld das Werk überhaupt entstanden ist und entstehen konnte. Vielleicht wird sie historische Studien und Interviews auswerten, um kritisch zu reflektieren: Inwieweit ist den Selbstbeschreibungen der Zeichnerinnen und Zeichner zu trauen, wo trifft man auf ideengeschichtliche Gemeinplätze? Soll man dort von Ideologie sprechen, wo Arbeit und Marktmechanismen solche Erklärungsmuster übergestülpt werden? Wenn sich die vier zusammensetzen und ihre Befunde vergleichen, werden sie sicherlich Weiteres zutage fördern oder problematisieren, denn klar ist: Das gedankliche »Department« hat noch viele weitere Türen und Zimmer. Die Perspektiven auf das imaginierte Artefakt sind sicherlich nicht abzählbar.

Man muss aber nicht nach abstrakten Reflexionen greifen, um konkreter zu beantworten: Wo findet Comic-Forschung tatsächlich statt? Comics sind in den letzten 15 Jahren zu einem festen Gegenstand insbesondere der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung avanciert. In den deutschsprachigen Ländern tragen insbesondere die Gesellschaft für Comic-Forschung (ComFor) und die Arbeitsgruppe Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) zum Austausch und Dialog zwischen unterschiedlichen Disziplinen bei. Tatsächlich findet Comic-Forschung nämlich in einem manchmal unbequemen, oft aber auch sehr produktiven Zwischenbereich unterschiedlicher Fächer statt – etwa Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft, Soziologie, Gender Studies oder zahlreicher Regionalwissenschaften wie Amerikanistik oder Japanologie. Jede dieser Disziplinen bringt eigene Fachbegriffe, -traditionen und -forschungsperspektiven mit. Comics sind schließlich zugleich und ebenso gut: Kunstwerke, Erzählungen, Waren, Medienformen, formalästhetische Gestaltungsprinzipien, kommunikative Äußerungen, Schnittstellen von sozialen Machtgefügen, Ausdrücke von Menschen- und Weltbildern – diese Liste ließe sich lange fortsetzen. Jede Disziplin antwortet also anders darauf, wie, warum und auf welche Weise Comics als Knotenpunkte für historisch gewachsene, ästhetische und soziokulturelle Praktiken untersucht werden können. Steffen Martus und Carlos Spoerhase haben in ihrer aktuellen Publikation »Geistesarbeit: Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften« von 2022 aber eindrucksvoll aufgezeigt, dass der wissenschaftliche Alltag geprägt ist von vielerlei anderen und häufig weit weniger glanzvollen Tätigkeiten als dem »Nachdenken« oder »Publizieren«. Was die Onlineredaktion der ComFor auf comicgesellschaft.de seit etwa anderthalb Jahrzehnten kontinuierlich abbildet, ist daher noch etwas anderes. Vor dem Schreiben steht häufig der Austausch auf Konferenzen und Workshops; das Lehren in verschiedenen Modulzusammenhängen. Konkrete Projekte wie Zeitschriftenausgaben zur Comic-Forschung werden zumeist über »Call for Papers« ausgeschrieben, auf welche mit Abstractvorschlägen zu reagieren ist. Wiederkehrende Veranstaltungen wie das öffentliche »ComFor-Panel« auf dem Erlanger Comic-Salon schaffen wiederum den Dialog mit Künstlerinnen und Künstlern und einer interessierten Öffentlichkeit. Eine jährliche Liste an Leseempfehlungen zeigt schließlich, dass Forscherinnen und Forscher zunächst auch Leserinnen und Leser sind. Als kultur- und geisteswissenschaftliche Praxisform zeichnet sich Comic-Forschung so durch zahlreiche einander überlagernde Praktiken aus, die oft weit »unter dem Radar« der Publikation verbleiben und Comic-Forschung zuallererst als ein soziales, kollaboratives Projekt ausweisen. Notwendigerweise, so schließlich auch Wirags Pointe im Eingangsbeispiel, werden wir stets nur selektive Aspekte eines Werks und seiner Produktion freilegen, die unserer jeweiligen Methodik und Fragestellung entsprungen sind. Oftmals entwickeln sich dabei aber auch unsere Praktiken weiter und wirken in die jeweiligen Fachtraditionen zurück, wenn wir nicht nur über, sondern auch mit Comics nachdenken und forschen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.