In der Kunst wie in der Religion kann es eigentlich keinen Streit geben. Was jemand für Musik spielt oder hört, was für Gebete dieser Mensch spricht oder stammelt, welche Bilder das Zuhause zieren, wie dort der Verstorbenen gedacht wird, welche frommen oder unfrommen Bücher hier gelesen werden und so weiter – die persönliche Religiosität also steht ebenso wie das eigene Kulturleben jenseits dessen, was als Konflikt den öffentlichen Raum von Zeit zu Zeit erhitzt. Es ist eine ureigene Angelegenheit der Menschen selbst, die von außen nicht zu beurteilen ist und nicht mit dem Bedürfnis verbunden ist, über andere zu urteilen. Man pflegt und genießt es für sich oder gemeinsam mit denen, die einem am nächsten sind. Das geschieht friedlich und alltäglich, weshalb man selten darüber etwas hört oder liest, obwohl es doch das religiös beziehungsweise kulturell Wesentliche ist. Der Streit ist demgegenüber die Ausnahme, ein Sonderfall der Entfremdung, der leider alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Aber natürlich ist die Religionsgeschichte – ähnlich wie die Kunstgeschichte – von zum Teil heftigen Konflikten durchzogen. Der Hauptgrund dürfte jedoch nicht in einem Absolutheitsanspruch liegen. Denn es gibt auch so etwas wie naive Absolutheitsansprüche, die sich darin erfüllen, dass jemand eine bestimmte Religionsauffassung für sich selbst als gültig anerkennt, ohne dies mit irgendwelchen Dominanzfantasien gegenüber anderen zu verknüpfen. Ähnlich ist es mit Vorlieben in der Kunst, die von einem gewissen Intensitätsgrad an ebenfalls mit einem Gefühl von Absolutheit verbunden sind. Das eigentliche Problem liegt vielmehr in der Öffentlichkeit von Religion, und zwar dann, wenn diese von einem Willen zur Macht angetrieben ist. Dann geht es um mein und dein, richtig und falsch, oben und unten, Freund und Feind – mit den allseits bekannten fatalen Folgen.

Nun haben die Christentümer in Deutschland aufgrund vieler schrecklicher Konflikterfahrungen eine besondere Kultur der Friedlichkeit entwickelt. Das war nur möglich durch erhebliche Veränderungen im Grundsätzlichen und Institutionellen – und damit wiederum selbst Gegenstand einer langen und intensiven Streitgeschichte. Am Ende aber ist vieles ziemlich gut ausgegangen. Oder wie mir eine Antisemitismusforscherin einmal gesagt hat: Sie verstünde gar nicht, warum alle so auf der evangelischen Kirche herumhackten, sie habe sich doch sehr zum Positiven entwickelt. Ja, manchmal muss man sich, von ewigen Selbstzweifeln geplagt, so etwas Bestätigendes von einer Außenstehenden sagen lassen. Nach innen wie nach außen hat meine evangelische Kirche eine wertvolle Kultur des Dialogs begründet und eingeübt, die prinzipiell von Neugier auf und Achtung für andere bestimmt ist. Natürlich gibt es im Innenverhältnis auch Streitigkeiten – sie dürften bei sich zuspitzenden Verteilungsfragen noch zunehmen –, aber das ist normales institutionelles Geschäft und nicht zu vergleichen mit den theologischen Frontstellungen der Vergangenheit.

Auch in unserem Verhältnis nach außen, zu anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie zu Gesprächspartnern aus der Zivilgesellschaft ist alles auf Dialog gestimmt. Das ist, auch wenn es manchen so erscheinen mag, keine Selbstverständlichkeit, sondern eine epochale Errungenschaft. Natürlich finden Freunde der zugespitzten Auseinandersetzung das ein bisschen langweilig und mokieren sich über die allzu höflichen Protestanten. Es mag sein, dass wir in unseren Dialogen gelegentlich zu katzenpfötig um prekäre Themen herumschleichen. Dabei wäre es das Zeichen einer gefestigten Beziehung, wenn man sie präzise anspräche und sich dann streitig ausspräche, weil man sich nur so wirklich kennenlernen kann. Allerdings muss man dafür das Vertrauen zueinander entwickelt haben, dass die gemeinsame Beziehung dies aushält.

Bedenkenswerter aber erscheint mir ein anderer Einwand gegen die heutige Kultur des Religionsdialogs. Sie ist doch, bei Lichte betrachtet, eine ziemlich protestantische Angelegenheit und lebt von Voraussetzungen, die bei anderen entweder nicht gegeben oder für sie nicht so wichtig sind. Dass man über Religiöses vor allem nachdenken und diskutieren soll, ist ein protestantisches Credo, Teil einer Konfession der Dauerreflexion. Anderen genügt es vollauf, Religiöses zu machen und zu erleben. Deshalb ergeben sich manchmal in Religionsdialogen Asymmetrien zwischen den mehr oder weniger Gebildeten und Diskussionsgeübten. Dies verstärkt sich durch unterschiedliche finanzielle und institutionelle Ressourcen. So kann sich in den friedfertigsten Dialogen dann doch ein Machtgefälle bilden – zugunsten der evangelischen Kirche. Deshalb ist es notwendig, dass man sich von Zeit zu Zeit streitet, um das manchmal sehr unterschiedliche Erleben des Dialogischen sichtbar zu machen.

Doch beim Thema »Religion und Streitkultur« beunruhigt mich etwas ganz anderes, nämlich die Paradoxie, dass von den deutschen Christentümern selbst wenig Streitigkeiten ausgehen, in der Öffentlichkeit aber regelmäßig sehr heftig über »das« Christentum gestritten wird, ohne dass jedoch Christenmenschen daran beteiligt würden. Das ist für mich das eigentliche Problem: diese heftigen Debatten über das Christentum ohne das Christentum. An drei Beispielen möchte ich das verdeutlichen.

Vor ein paar Jahren veröffentlichte die Landtagsfraktion der AfD in Thüringen ein Anti-Kirchenpapier, in dem ich die Ehre hatte, als besonders grün-versifftes Subjekt angegriffen zu werden. Es zeigte beispielhaft, warum die scharfe Kritik an der (evangelischen) Kirche für Rechtspopulisten und -extremisten so wichtig ist: Indem sie christliche Humanität und kirchliches Engagement für Schwache angreifen, wollen sie den Kern von Menschlichkeit überhaupt treffen. Wie es meine Art ist, habe ich der thüringischen AfD-Fraktion geschrieben und einen Dialog angeboten, aber natürlich keine Antwort erhalten. So sind sie halt: Laut beklagen sie, dass niemand mit ihnen sprechen und zusammenarbeiten möchte, aber eigentlich wollen und können sie das gar nicht. Das wird bei den aktuellen »Brandmauer«-Debatten oft übersehen: Die eigentliche Brandmauer ist die AfD selbst. Radikale Totalopposition, enthemmte Streitlust ohne Kompromissfähigkeit – das ist ihr Geschäftsmodell. Deshalb hetzt sie gegen das Christliche, ohne mit Christen zu sprechen.

Anders, aber auch signifikant ist das, was ich als Christentumskritik von woke-aktivistischer Seite wahrnehme. Dort hat sich die Redeweise von den »wc-Deutschen« eingebürgert, eine abfällige Charakterisierung derer, die weiß, christlich und deutscher Herkunft sind. Dass man beim Lesen an Wasserklosett denkt, dürfte beabsichtigt sein. Dies verbindet sich gelegentlich mit einer Religionskritik des Patriarchalismus, die diesen auf die Bibel zurückführt. So hat die von mir ansonsten sehr geschätzte Sängerin Anohni kürzlich erklärt, dass die »abrahamitische Theologie« die Wurzel aller Übel sei und uns bis heute in Gender-Ungerechtigkeit und sexueller Entfremdung gefangen halte. Nicht selten kommen bei solchen Äußerungen – wahrscheinlich unbewusst – antijüdische Stereotype zum Einsatz, wie der vermeintlich grausame Männergott des Alten Testaments. Vor allem aber wird hier in großer Eindeutigkeit »das« Christentum verdammt, ohne dass man je mit einer z. B. feministischen Protestantin oder einem Mitglied einer afrikanischen Kirche gesprochen hätte. Das hätte bloß das Feindbild – weißer, deutscher Christenmann – ins Wanken gebracht. Dass die heutigen Christentümer mehrheitlich weiblich und im globalen Süden beheimatet sind, möchte man lieber nicht zu genau wissen. So geht manchen in der aktivistischen Szene nicht auf, dass die eigene Hermeneutik strukturell rassistisch ist, weil sie unter umgekehrten Vorzeichen die Behauptung christlicher Nationalisten aus den USA – christlich gleich weiß – wiederholt.

Zum Schluss ein Wort zum Berliner Humboldt-Schloss. Denn hier wurde der lauteste und unsinnigste Streit über das Christentum ohne das Christentum der jüngeren Vergangenheit abgefeiert. Erst ließen die Verantwortlichen (wer ist das genau?) eine Kuppel bauen, ihr dann ein Kreuz aufsetzen und sie schließlich mit einer biblischen Inschrift versehen, ohne dass dies mehr als ein historisches Zitat gewesen wäre. Anschließend wurde sich groß erregt, von links wie rechts draufgehauen, dass es eine Art hatte. Als Theologe stand man ratlos daneben. Dann wurde von anderen Verantwortlichen angekündigt, diese angeblichen Dominanzgesten »des« Christentums rückgängig machen zu wollen, woraus nur das Aufstellen von zwei Erklärtafeln auf dem Dach des Humboldt-Schlosses wurde. Auch hieran war niemand aus Kirche oder Theologie beteiligt. Dass man hier ebenfalls so leidenschaftlich über das Christentum ohne das Christentum streitet, ist das nun ein Ausdruck von Arroganz oder Ignoranz? Oder liegt es eher – das ist meine Vermutung – an dem in Berlin verbreiteten Aberglauben, dass man schon bei der zartesten Berührung mit leibhaftigem Christentum Gefahr läuft, sofort tot umzufallen? Im Humboldt-Schloss habe ich wiederholt gehört, dass man nicht mehr bloß über andere Kulturen sprechen wolle, sondern immer auch mit ihnen. Im Fall der Christentümer scheint das nicht zu gelten. Mit keiner anderen Religionsgemeinschaft oder Betroffenengruppe wäre man so umgegangen. Übrig bleiben also die beiden Tafeln mit einem Text, dessen Widersinnigkeit der Theologe Richard Schröder – als Vorsitzender des Fördervereins Berliner Schloss nicht ohne eigene Interessen – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auseinandergenommen hat. Man hatte es ihm allerdings leicht gemacht. Für eine Kultureinrichtung ist dieser Fall von Streit-Unkultur peinlich und für die evangelische Kirche ärgerlich. Denn ständig wurden wir von links oder rechts erregt angegangen und auf ein Verständnis von Christentum festgelegt, mit dem wir nichts tun haben. Deshalb wäre mein Wunsch für eine zukünftige Streitkultur in Sachen Religion: Lassen Sie uns miteinander streiten!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.