O b zu Recht oder zu Unrecht: Es fehlt nicht an Historikerinnen und Historikern, die davon ausgehen, dass mit dem Ende der spätmittelalterlichen Badehauskultur in Europa eine durch und durch hydrophobe Epoche ihren Anfang genommen habe, die nicht müde geworden sei, vor den bedrohlichen Folgen allzu häufiger Körperreinigung mithilfe von Wasser zu warnen. So können z. B. selbst die großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts noch wenig mit einem Begriff wie »Dusche« anfangen. Und es spricht viel dafür, dass selbst das regelmäßige Waschen des »bürgerlichen« Körpers im 19. Jahrhundert erst über die allmähliche mediale Neuordnung oder besser vielleicht »Purifizierung« des öffentlichen Raumes etabliert werden konnte. Wenn die Hygienehistorikerin Katherine Ashenburg die nachmittelalterlichen Jahrhunderte einmal als »the dirtiest in the history of Europe« bezeichnet hat, dann alles andere als augenzwinkernd.

Andererseits: Wir können seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert eine geradezu unheimliche und zudem bemerkenswert nachhaltige Konjunktur von Reinheitsdiskursen, Reinheitsmodellen und Reinheitspraktiken beobachten. Eine Konjunktur, die dazu diente, Wahrnehmungen in Einklang zu bringen und Erfahrungen zu vereinheitlichen, um auf diese Weise Selbst- und Weltdeutungen zu homogenisieren, zu stabilisieren und nicht zuletzt auch zu harmonisieren. Eine Konjunktur, die Reinheit – und damit auch Unreinheit – als exklusives Muster einer Lebensführung erweisen sollte, der es vor allem um eines ging: um Eindeutigkeit. Vorstellungen von Reinheit sind immer auch Vorstellungen von der richtigen Ordnung der Dinge, wie die Ethnologin Mary Douglas schon 1966 festgehalten hat. Reinheit, so könnte man sagen, wurde im Laufe der frühen Neuzeit zu einem kulturellen, ja, zu einem historisch-anthropologischen Code: ordnungsstiftend, symbolerzeugend und handlungsleitend; vielleicht sogar zu dem historisch-anthropologischen Code schlechthin. Denn so viel steht fest: Ob als Alltagspraxis oder Körpersprache, ob als Medium der Selbst- und Weltdeutung, ob als Differenzmarkierung – Reinheit war und ist eine historisch-anthropologische Herausforderung par excellence, die durchaus geeignet zu sein scheint, eine Epoche auf den Punkt zu bringen. Ein Widerspruch zum ersten Befund? Ich denke nicht – kann doch der »Schmutz« der Hygiene-und Medizingeschichte auch auf jene Reinheitsvorstellungen zurückgeführt werden, um die es im Folgenden gehen soll.

Wann immer seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert das Verhältnis der Geschlechter zur Rede stand: Liebe, Ehe, Sexualität, Kinder, Scheidung, ging es um rein oder unrein. Wann immer jetzt öffentliche Bäder geschlossen wurden – in Wien z. B. sank ihre Zahl bis 1534 innerhalb weniger Jahrzehnte von 21 auf 11 –, beschworen die Obrigkeiten die Gefahr der Syphilis und führten damit eine Krankheit ins Feld, in der »innere« und »äußere« Unreinheit zusammenfallen. Wann immer jetzt die Prostitution in den Blick geriet, taxierten dieselben Obrigkeiten das Für und Wider nicht mehr wie noch im späten Mittelalter nach ordnungspolitischen Maßgaben, sondern vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass »puritas vitae« und »puritas civitatis« ein und dasselbe sind. Das aber hieß: Die Bordelle wurden geschlossen, wobei Wittenberg 1522 den Anfang machte. Andere evangelisch gewordene Städte folgten und lösten eine europaweite Verbotswelle aus, die leicht verzögert auch altgläubig gebliebene Kommunen und Territorien erfasste. Schließlich, wann immer jetzt gepredigt, gelehrt und nicht zuletzt auch gedichtet wurde, galt es, die Reinheit des Gesagten zu erweisen, unter welchen Vorzeichen auch immer. Denn so einschlägig die Reformatoren mit ihrem Wort-Kult hier auch gewesen sein mochten: Schon ein kurzer Blick in altgläubige Predigten des 16. Jahrhunderts – und darüber hinaus – lässt in aller Deutlichkeit erkennen, wie eng auch in ihnen Sprach- und Glaubensreinheit aufeinander bezogen wurden.

All das war kein Strohfeuer. All das endete nicht mit der »neuen Sittlichkeit« der Reformation. Im Gegenteil. Der Siegeszug der Reinheit – die wir seit Martin Luther in erster Linie als ethische Reinheit im Unterschied zur rituellen Reinheit fassen können – ging weiter und nahm sogar an Fahrt auf, begann die Matrix von rein und unrein im Laufe des 16. Jahrhunderts doch auch jenen frühneuzeitlichen Fundamentalprozess zu strukturieren, den wir gemeinhin Konfessionalisierung nennen. In anderen Worten: Die Frage nach der Genese und Profilierung konfessioneller Kulturen ist immer auch eine Frage nach Prozessen der Grenzziehung zwischen rein und unrein. Konfessionalisierung war Purifizierung. Was aber bedeutet das genau? Das bedeutet, dass Katholiken wie Protestanten ihre Kirchenräume nach Reinheitsmaßgaben umgestalteten, sodass mancher Heilige am Rand bzw. hinter den Säulen der Himmelsgesellschaft landete, wenn nicht aus ihr entfernt wurde; ja, dass nicht einmal Maria vor purifizierenden Eingriffen sicher sein konnte. Schon im 17. Jahrhundert durfte die Mutter Gottes nur noch schwanger sein, wenn sie einen weiten Mantel trug. Das bedeutet, dass Menschen in ganz Europa wie selbstverständlich davon ausgingen, andere Glaubensgemeinschaften seien krankheitserregend; und dass allerorten auch die Furcht vor einer Kontamination heiliger Texte zunahm und damit vor einer Kontamination von Lehre und Glauben, wie sich exemplarisch an Luthers sogenannten »Judenschriften« zeigen ließe. Das heißt, dass Prozesse konfessioneller Ausdifferenzierung – bis hin zur konfessionellen Spaltung – mehr oder weniger durchgängig auch als Prozesse zu fassen sind, in denen Grenzen zwischen rein und unrein gezogen wurden. Das heißt, dass in diesen Prozessen die Kirchenzucht mit ihrer unerbittlichen Bannpraxis eine immer größere Rolle spielte, die in Täufertum und Calvinismus, aber auch im lutherischen Pietismus nur ein Ziel hatte: die Reinheit der Abendmahlsgemeinschaft. Und das bedeutet schließlich auch, dass wir vergleichbare Entwicklungen auch in jüdischen Diasporagemeinden in ganz Europa beobachten können. Entwicklungen, die das Judentum nachhaltig verändert haben, weil sie die rabbinische Tradition kabbalistisch überformten und dabei in Orthodoxie verwandelten. Um aber auch das nicht zu vergessen: Auch die konfessionelle Gewalt der frühen Neuzeit folgte dem Code der Reinheit. Ob verhöhnt oder verspottet wurde, ob gefoltert, vergewaltigt oder hingerichtet, ob Leichen geschändet wurden, immer ging es darum, Reinheit und Unreinheit körperlich sichtbar und damit identifizierbar zu machen.

Vor allem aber: Seit dem 15. Jahrhundert verbreitete sich – ausgehend von der Iberischen Halbinsel – eine Vorstellung, die schon die Zeitgenossen als »limpieza de sangre« bezeichneten, als »Reinheit des Blutes«. Eine Vorstellung, die darauf abzielte, das Ketzerrecht der Kirche auf die Nachkommen konvertierter Juden und Muslime anwenden zu können, ging sie doch davon aus, dass sich häretische Anlagen über das Blut vererben. Eine Vorstellung zudem, die einen Begriff anthropologisierte, der bis zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die Abstammung von Hunden und Pferden bezeichnet hatte: den Begriff der »Rasse«. Und das nicht nur in Spanien. Die Profilierung von Reinheits- und Rassediskursen, die Transformation des »genealogischen Rassismus« in den »anthropologischen Rassismus« war durchaus eine europäische Entwicklung, die mit der europäischen Expansion globalisiert wurde. All das aber heißt, dass wir den Durchbruch des Prinzips der ethischen Reinheit und die frühneuzeitliche Tendenz zur Naturalisierung, ja, zur Biologisierung von Abstammung eng aufeinander beziehen müssen.

Wie aber ist die Erfindung der Reinheit in der »schmutzigen« frühen Neuzeit zu erklären? Wenn es stimmt, dass sich Vorstellungen von Reinheit vor allem dort verdichten, wo kollektive Zugehörigkeiten in Gefahr geraten, dann scheint die Reinheitsobsession der frühen Neuzeit nur konsequent zu sein, spricht doch viel dafür, dass sich die spezifische Dynamik dieser Epoche der fundamentalen kollektiven Erfahrung einer andauernden Entgrenzung verdankt, nicht zuletzt geografisch, die jenes Bedürfnis nach Ordnung hervorbrachte, das die Matrix von rein und unrein ins rechte Lot zu bringen versuchte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.