Wer länger in einer Großstadt gelebt hat, sehnt sich oft nach einem ruhigen, entschleunigten Leben auf dem Land. Aber auf dem Land lassen häufig die kulturellen Einrichtungen zu wünschen übrig, auch Bibliothek, Hallenbad und Wochenmarkt sind meist – durch eingeschränkten ÖPNV – nur mit dem PKW zu erreichen. »Warum kann man nicht das Beste von beiden Welten haben?«, mag es vielen Stadt- wie Landbewohnerinnen und -bewohnern schon als Stoßseufzer entflohen sein. Eine Antwort auf diese Frage ist bereits über 120 Jahre alt: die Gartenstadt.

Ebenezer Howard, Jahrgang 1850, war im Hauptberuf Parlamentsstenotypist. Nach einem Aufenthalt als Farmer in Nebraska zieht er nach Chicago, wo er als Reporter arbeitet. 1871 war Chicago von einem schlimmen Brand betroffen. Der Neuaufbau der Stadt, die später den Beinamen »Garden City« erhielt, hat Howard vermutlich nachhaltig beeindruckt.

Er schöpft aber auch aus Quellen, die in seiner Heimat entspringen. Er kennt die Sozialutopien der Boden- und Gesellschaftsreformer des 19. Jahrhunderts, wie z. B. Robert Owen, ein philanthropischer Unternehmer, der auch als Begründer des Genossenschaftswesens gilt. In seiner Baumwollspinnerei im schottischen New Lanark gibt es für seine Arbeiter Arbeitslosen- und Krankenversicherung, er reduziert die Arbeitszeit und untersagt Kinderarbeit. Und er legt eine Modellsiedlung an, mit der er neue Ideen des (Zusammen-)Wohnens umsetzt: New Lanark, das heute zum Weltkulturerbe gehört. Das Modell macht Schule: 1893 beginnt der britische Schokoladenfabrikant George Cadbury mit dem Bau der Siedlung Bournville im Süden von Birmingham. Im Jahr 1900 übergibt er sie einem Trust zur unabhängigen Verwaltung. Ab 1899 bauen die Brüder William Hesketh Lever and James Darcy Lever für die Arbeiter ihrer Seifenfabrik außerhalb von Liverpool die Siedlung Port Sunlight.

Ein weiterer Einfluss auf Ebenezer Howard ist der britische Designer und Sozialaktivist William Morris, den man heute vor allem als Mitbegründer der sogenannten »Arts & Crafts«- Bewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts kennt. Morris verdammte die Industrialisierung und die mit ihr einhergehende Entfremdung des Arbeiters von seinen Erzeugnissen. Er proklamiert ein »Zurück zum Handwerk«.

Aus all diesen Eindrücken entwickelt Howard ein Konzept, das er 1898 in dem Buch »To-morrow: A Peaceful Path to Real Reform« niederlegt. Die Neuauflage 1902 trägt den bekannten Titel »Garden Cities of To-morrow«.

Nach der Begegnung mit den großzügig angelegten Siedlungen in der Neuen Welt sieht Howard das Wohnelend in den durch die industrielle Revolution explodierenden britischen Großstädten mit anderen Augen. Städte wie London und Manchester nennt er »Geschwüre, die das Antlitz unserer schönen Insel verunstalten«. Die Idee, die er aus diesem Missstand entwickelt, ist radikal – er will den Unterschied zwischen Stadt und Land aufheben. Ganz England soll ein Geflecht von »Gartenstädten« werden. Seine Idee: Jeweils um die 30.000 Menschen kaufen Land zu Ackerbodenpreisen und entwickeln dann gemeinschaftlich die zu bauende Stadt. Ein Drittel der Fläche soll mit Häusern bebaut sein; zwei Drittel werden als Gärten, Parks und Ackerland genutzt. In der Gartenstadt soll jedes Handwerk und jede Form des Handels mindestens einmal vertreten sein.

Die Industrie ist im direkten Umland der Stadt angesiedelt, sodass die Arbeiter kurze Wege haben. Dort befinden sich auch agrarische Betriebe, die die Stadt nachhaltig versorgen. Im Zentrum liegt ein Park, umgeben von einer gläsernen Arkade. Hier bieten Händler und Handwerker ihre Waren an, hier treffen sich Spaziergänger. Ebenfalls um den Park herum angesiedelt sind das Rathaus, ein Konzerthaus, ein Museum, ein Theater, eine Bibliothek und das Krankenhaus. Howards Gartenstadt ist keine Vorstadt, sondern eine kulturell, sozial und ökonomisch eigenständige, autarke Einheit.

Mit Unterstützung von George Cadbury und den Lever-Brüdern plant Howard 1903 die Gartenstadt in Letchworth. An diesem Ort zwischen London und Cambridge wird im selben Jahr mit dem Bau der ersten Siedlung begonnen.

Ab 1909 entsteht in Dresden die erste deutsche Gartenstadt. Was in Großbritannien George Cadbury und die Lever-Brüder sind, ist in Dresden der Möbelfabrikant Karl Schmidt. Er gründet die Gartenstadt Hellerau als Wohnstätte für die Angestellten und Arbeiter seiner Deutschen Werkstätten. Die Architekten, unter ihnen Richard Riemerschmid und Hermann Muthesius, planen nach dem Vorbild der britischen Gartenstädte eine Siedlung auf der grünen Wiese.

In der Folge entstehen Gartenstädte in Karlsruhe-Rüppurr, Hohenhagen in Hagen, Wandsbek bei Hamburg oder die Margarethenhöhe in Essen. Ein Aspekt der Gartenstadt ist hierzulande wesentlich ausgeprägter als in seinem Ursprungsland: der des Selbstversorgergartens. Dieser ist vor allem ein Erbe der Lebensreform. Neben administrativer und kultureller Eigenständigkeit wird auch eine agrarische Unabhängigkeit angedacht.

Der Erste Weltkrieg ist die große Zäsur für den Bau der Gartenstädte. Allerdings beginnt die Aufweichung des Konzepts schon früher: Die Gartenstadt wird immer mehr zu einer Gartenvorstadt, und damit entweder zu einer Trabantenstadt oder zu einer Art bewohntem Naherholungsgebiet für begüterte Städter.

Viele der Themen, die Howard 1898 zu seinem Buch inspirierten, sind heute noch immer bzw. wieder aktuell: Revolutionen in der Arbeitswelt durch technische Entwicklung – Stichwort: Homeoffice, steigende Wohnraumpreise, Partizipation, genossenschaftlich verwaltetes Wohneigentum und nicht zuletzt Nachhaltigkeit, Selbstversorgung, wenige versiegelte Fläche und eine allgemeine Verbundenheit mit der Natur – Stichwort: Urban Gardening. In einer Zeit, in der immer häufiger die Frage »Wie wollen wir leben?« gestellt wird, könnte das Konzept der Gartenstadt alte neue Antworten geben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.