Bei aller Unterhaltung und ästhetisch-sinnlichem Vergnügen angesichts von Praktiken des Streitens in den Medien zeigen Formen des dokumentarischen Kinos auch die Produktivität des Streitens hinsichtlich ernsterer Themenbereiche. Hier können speziell »Dokumentarische Interventionen« zur Sichtbarkeit von Konflikten sowie damit verbundenen Widersprüchen samt ihrer Deutung führen, um die Strukturen von Streit und damit in Verbindung stehenden Konstellationen von Macht und Machtlosigkeit zu konturieren.

Welches Potenzial dem dokumentarischen Kino als Ort für Interventionen innewohnt, beweist exemplarisch der Dokumentarfilm »The Look of Silence« (2014) von Joshua Oppenheimer auf eindrückliche Weise, indem er Streitgespräche zwischen Tätern und Opfern des Genozids in Indonesien von 1965/66 inszeniert.

Durch die filmische Arbeit Oppenheimers mit den Verantwortlichen des Genozids erfährt eine Familie, unter welchen Umständen ihr Sohn Ramli getötet wurde und wer seine Mörder waren. Der jüngste Bruder des Ermordeten – der Optiker Adi Rukun – beschließt daraufhin, das kollektive Schweigen zu (durch)brechen. Hierbei überwindet er zusammen mit Regisseur Oppenheimer die Angst vor den Konsequenzen und konfrontiert die Männer, die seinen Bruder umgebracht haben, vor der Kamera.

»The Look of Silence« überschreitet hierbei die Grenzen des dokumentarischen Kinos. Innerhalb derer war es bisher nicht denkbar, dass die Opferseite eines Genozids die Täter mit der gemeinsamen Vergangenheit im Rahmen von Streitgesprächen konfrontiert, während letztere noch Machtpositionen in der Gesellschaft innehaben.

Die Konfrontation der Täter- und Opferperspektive in »The Look of Silence« in Form von inszenierten Streitgesprächen ist deshalb so eindrucksvoll, da sie filmisch – über die Inszenierung der Perspektiven – eine interessante (Wechsel-)Beziehung der Modi von aktiv und passiv in Bezug auf die Deutung der Täter- und Opferrollen vorschlägt. Innerhalb des Films wird das klassische Beziehungsgeflecht aus aktivem Täter und passivem Opfer aufgebrochen.

Über die Montage der Gesprächssituationen verwischen die Grenzen von Täter und Opfer. Es geht innerhalb des Filmes um die Gleichzeitigkeit von aktiven und passiven Momenten, in denen die Rezipienten der Streitgespräche phasenweise nicht genau sagen können, wer jetzt eigentlich »sieht« und wer »gesehen wird« bzw. wer jemandem »etwas tut« und wem »etwas angetan« wird.

Im dokumentarischen Kino à la Oppenheimer wird durch eine Methode der Dekonstruktion klassischer Täter- und Opferrollen die Beobachtbarkeit von Streit und damit verbundenen asynchronen Machtstrukturen in Form einer Perspektive nachvollziehbar, die sich mit der Idee des »Medio-Performativen« beschreiben lässt: Täter und Opfer treten innerhalb des Filmes auf eine Weise miteinander in Beziehung, die weder das aktive Zugreifen einer Täterhaltung beschreibt, noch die passive Haltung des Opfers wiedergibt. Der Film stellt die Wirklichkeit(en), auf die er im Rahmen der Streitgespräche verweist, erst her und macht sie dadurch beobachtbar. Der Streit zwischen Täter und Opfer wird erst im und durch die filmische Intervention hervorgebracht. Er stellt bezüglich seiner Produktion sowie seiner sinnlichen Wahrnehmung eine Instanz zwischen dem aktiven Aneignen von Vergangenheit und ihrem passiven Erdulden dar und (er)schafft durch diese Haltung eine komplementäre Wirklichkeit in Bezug auf die Lesart dessen, was in der Vergangenheit passiert ist und was in der Gegenwart – zumindest im Medium des interventionistischen Dokumentarfilms – möglich ist.

Durch die filmische Inszenierung eines derartigen Perspektivwechsels auf die Geschichte ermöglicht es das dokumentarische Kino als »Resonanzraum«, mit den drastischen Konsequenzen dieses speziellen Streitfalls auf eine differenzierte Art in Beziehung zu treten und die Konfliktkonstellationen in Form von Anschlusskommunikation zu thematisieren. Im Falle von »The Look of Silence« führte die intensive Zirkulation und Kritik des Filmes innerhalb und außerhalb von Indonesien sogar dazu, die Perspektive auf die Geschichte zu verändern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.