Einst waren die Ozeane eine unbekannte Welt und die Seefahrt ein Wagnis ohne Gewissheit, je zurückzukehren. Unheimliche Seeungeheuer warteten auf die Seefahrer und die Gefahr drohte, vom Rande der Welt zu fallen, der sich irgendwo hinter dem blauen Horizont verbarg. Stürme verschlangen Schiffe und Krankheiten ganze Mannschaften. Oder Piraten. Doch auch neue Welten mit Reichtümern und neue Handelspartner lockten im Unbekannten. Die menschliche Neugier zog daher Mutige trotz aller Gefahren hinaus aufs Meer. Diese Mutigen waren Seefahrer, Abenteurer und Eroberer gleichermaßen – später auch noch Gelehrte und Forscher. Über die Jahrhunderte füllten sich die schwarzen Flecken auf den Seekarten durch diese Mutigen nach und nach mit dem Wissen über die Meere und die Welt darunter. Doch mit dem zunehmenden Wissen über die Meere und Ozeane stieg auch die Notwendigkeit für Regeln. Wem gehört das Meer? Wer darf das Meer wie nutzen – ob aus wirtschaftlichen, geopolitischen oder wissenschaftlichen Interessen? Und wie geht man mit der Entdeckung neuer Meeresgebiete, Ressourcen oder Lebensräume um?

Sind die Meere ein rechtsfreier Raum?

Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) sieht die Freiheit der hohen See als zentrales Recht aller Staaten, das heißt Küsten- oder Binnenstaaten, gleichermaßen vor. Dieses Recht umfasst die Freiheit der Schifffahrt, die Freiheit des Überflugs, die Freiheit, unterseeische Kabel und Rohrleitungen zu legen, die Freiheit, künstliche Inseln und andere Anlagen zu errichten, die Freiheit der Fischerei sowie die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung. Doch zum rechtsfreien Raum wird die hohe See damit keineswegs. Denn diese Freiheiten gelten nicht uneingeschränkt.

Spätestens mit dem Inkrafttreten des UN-Seerechtsübereinkommens 1994 sind sämtliche Freiheiten, aber auch sonstige Nutzungen der Meere und Ozeane unter der allgemeinen Verpflichtung der Staaten zu sehen, die Meeresumwelt zu schützen und zu bewahren.

Diese Verpflichtung ist in Teil XII des UN-Seerechtsübereinkommens näher ausgestaltet und in einer Vielzahl weiterer Rechtsinstrumente im Detail geregelt. In diesem Teil wird die Bedeutung des UN-Seerechtsübereinkommens als »Verfassung der Meere« besonders deutlich.

Wie wurde diese Rechtslage geschaffen, und wie entwickelt sie sich weiter?

In internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen kommen alle Mitgliedsstaaten und relevanten Disziplinen zueinander, um die unterschiedlichen Interessen und Kenntnisse einzubringen. So arbeiten z. B. Meeresbiologen, Meeresgeologen, Seevölkerrechtler und viele mehr aus aller Welt an der Weiterentwicklung der Rechtsordnung für die Meere und Ozeane. Das Seevölkerrecht teilt die Meere horizontal und vertikal in verschiedene juristische Meereszonen auf. Dabei nimmt die Hoheitsbefugnis eines Küstenstaates mit zunehmender Entfernung von der Küste ab, bis sie an einem Punkt endgültig endet. Doch auch jenseits dieser Hoheitsbefugnisse ist das Meer kein rechtsfreier Raum. Auf der Grundlage erster Überlegungen verschiedener Völkerrechtler seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert schlug Arvid Pardo, der ständige Vertreter Maltas zu den Vereinten Nationen, 1967 ein eigenes Rechtsregime für den Meeresboden und den Meeresuntergrund vor – jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse. Dieses sah eine Nutzung zu friedlichen Zwecken, ohne Schädigung Einzelner und zum Wohle aller, vor. Das Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit wurde geboren. Das von Arvid Pardo vertretene Prinzip des gemeinsamen Erbes der Menschheit hinterfragt die seit 1609 bestimmende Freiheit der Meere und überträgt Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft. Die Einführung dieses Regimes in das UN-Seerechtsübereinkommen war damit ein bedeutender Schritt in der Weiterentwicklung des Völkerrechts und dürfte auch Wegbereiter für zukünftige Herausforderungen des Seevölkerrechts sein – und darüber hinaus. Wir wissen noch immer nur sehr wenig über den größten Lebensraum der Erde. Diese faszinierende Welt voll Leben, Geheimnissen und Reichtümern birgt noch unendlich vieles, das es zu entdecken gilt. Und das Seevölkerrecht – gemeinsam mit der wissenschaftlichen Meeresforschung und anderen Disziplinen – hat zur Aufgabe, die Grundlagen für eine nachhaltige und verantwortungsvolle Nutzung der Meere und der natürlichen Ressourcen sowie den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt für die Menschheit, insbesondere der kommenden Generationen zu schaffen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.