Erinnerungskulturen sind immer im Fluss. Aktuell hat man aber das Gefühl, sich mitten in hochdynamischen Veränderungsprozessen zu befinden, die auch im Zusammenhang mit europäischen und globalen Dynamiken stehen. Seit 2014 und verstärkt seit 2022 hat die russische Aggression gegen die Ukraine einen Wandel in der deutschen Erinnerungskultur befördert, der insbesondere die Wahrnehmung der Millionen Opfer des deutschen Vernichtungskriegs in der Sowjetunion betrifft. Während 2014 in Teilen der deutschen Öffentlichkeit und Politik noch die Fehlwahrnehmung verbreitet war, dass diese sowjetischen Opfer mit russischen Opfern gleichzusetzen seien, und eine historische Schuld und Verantwortung vor allem gegenüber Russland bestehe, erfahren neben den russischen heute auch ukrainische, belarussische und andere ehemalige sowjetische Opfer des deutschen Vernichtungskriegs eine stärkere Wahrnehmung. Dies geht auch mit der Schaffung neuer Erinnerungsorte einher, wie einem neuen Dokumentationszentrum in Berlin, das zukünftig die Geschichte der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft in Europa dokumentieren und das Gedenken an die Opfer befördern soll. In Russland wird diese Erinnerungsinitiative als Bedrohung angesehen, weil man um den Verlust der Deutungshoheit über die Geschichte des »Großen Vaterländischen Kriegs« im Zeichen neuer nationaler Opfererzählungen, insbesondere der Ukrainer, fürchtet. Das russische Außenministerium drohte sogar, dies könne die sensible russisch-deutsche Nachkriegsversöhnung gefährden.

Die »Osterweiterung der deutschen Erinnerung«, die eine stärkere Wahrnehmung der vergessenen Orte deutscher Massenverbrechen in Polen, Belarus, der Ukraine, Russlands und andernorts umfasst, stellt ein dringendes Desiderat dar.

Sie erfordert auch weitere empirische Forschungen zu den jüdischen Opfern des »Holocaust durch Kugeln«, zu ermordeten kranken und behinderten Menschen, zur Verfolgung sowjetischer Roma oder zu den Bewohnern vollständig vernichteter Ortschaften. In der Ukraine konnte 2015 die Öffnung der ehemaligen Geheimdienstarchive wichtige Impulse für die Erforschung von Holocaust, zivilen Opfern oder auch Kollaboration in der Ukraine setzen.

Nicht wenige deutsche Täter sind in der Bundesrepublik nie für ihre grausamen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden. Auch diese Nachgeschichte der fehlenden Aufarbeitung von NS-Verbrechen im Osten durch die deutsche Justiz stellt einen wichtigen Bestandteil der Erinnerung an die Opfer da, die dadurch quasi ein mehrfaches Unrecht erfuhren.

Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lässt sich zudem eine weitere Wende in der deutschen Erinnerungskultur, die nun im Zeichen einer stärkeren Anerkennung der Opfer des Stalinismus stand, beobachten. Unter dem Eindruck der brutalen russischen Kriegsführung griff der Deutsche Bundestag in einem Akt der Solidarität ein dringendes ukrainisches Anliegen auf und erkannte den Holodomor, die große Hungersnot von 1932 bis 1933 unter der Herrschaft Stalins, die allein in der Ukraine vier Millionen Todesopfer gefordert hatte, als Völkermord am ukrainischen Volk an. Damit griff die Politik der Fachwissenschaft quasi voraus, die die Einordnung der Hungersnot als Genozid gemäß der UN-Konvention durchaus kontrovers diskutiert hatte. Unstrittig ist, dass es sich bei der menschengemachten Hungerkatastrophe um ein großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, denn ihre wichtigste Ursache lag in der brutalen Politik der staatlichen Getreiderequisitionen im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin. Im Ergebnis des Bundestagsbeschlusses soll das Gedenken an die Opfer der in der deutschen Öffentlichkeit noch immer viel zu wenig bekannten Hungerkatastrophe, gestärkt werden. Dies geht einher mit einer allgemein gesteigerten Aufmerksamkeit für die Verbrechen des Stalinismus in Europa, die durch die europäische Geschichtspolitik, nicht zuletzt in Reaktion auf entsprechende Forderungen der ostmitteleuropäischen Staaten, in den letzten Jahren festzustellen ist.

Darüber hinaus hat der russische Angriffskrieg nicht nur in der Ukraine, sondern auch international Diskussionen über einen russischen und sowjetischen Imperialismus und Kolonialismus befördert. In Deutschland traf dies auf aktuelle erinnerungskulturelle Debatten über die Singularität des Holocausts sowie Kontinuitätslinien zwischen Holocaust und Kolonialismus. In diesem seit zwei Jahren zum Teil sehr heftig ausgetragene »Historikerstreit 2.0« geriet angesichts von Putins neoimperialem Krieg auch der deutsche koloniale Blick auf Osteuropa stärker in den Fokus. Im Resultat könnte das oft unterbelichtete Gedenken an die Opfer der deutschen Kolonialverbrechen in der Erinnerungskultur insgesamt gestärkt werden.

Im Zuge des Kriegs in der Ukraine sind aber auch neue erinnerungskulturelle Konfliktlinien hervorgetreten, z. B. über das Gedenken an die Befreiung von der NS-Herrschaft. Mehrere sowjetische Ehrenmale für die Angehörigen der Roten Armee wurden aus Protest gegen den russischen Angriffskrieg mit Farbe beschmiert, und an mehreren Orten wurden Forderungen nach einem Entfernen der Denkmäler laut. Dabei wird von den Verantwortlichen oft übersehen, dass in der Roten Armee auch zahlreiche Nichtrussen kämpften, darunter sechs Millionen Ukrainer, die auch in der ukrainischen Erinnerungskultur heute in Vergessenheit geraten sind. In der Ukraine und in Russland sind seit 2014 Erinnerungskonflikte über zentrale Ereignisse geteilter Geschichte mit zunehmender Schärfe zutage getreten. Die nationalen Historiografien und Erinnerungskulturen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich seit den 1990er Jahren unversöhnlich auseinanderentwickelt. Über die migrantischen Gemeinschaften gelangen diese Konflikte nach Deutschland und werden uns zukünftig noch mehr vor die Herausforderung stellen, Ansätze für eine gemeinsame, integrierende Erinnerungskultur zu befördern und die Erinnerungen verschiedener migrantischer Gruppen stärker miteinander zu verflechten. Ein Blick auf Erfahrungen mit älteren Erinnerungskonflikten, z. B. in Migrantengruppen aus dem Nahen Osten, könnte hier hilfreich sein.

Es ist von zentraler Bedeutung, dass angesichts dieser verschiedenen Veränderungsdynamiken in der deutschen Erinnerungskultur die Weichen richtiggestellt werden. All denjenigen, die heute eine Schlussstrichdebatte und erinnerungspolitische Wende unter den Vorzeichen des Antisemitismus und Rassismus betreiben, ist entgegenzusetzen, dass die Würdigung der Opfer deutscher Massenverbrechen im Osten ein dringendes Desiderat unserer Zeit darstellt. Viel zu lange ist diesen Opfern die Anerkennung in unserer Erinnerung verwehrt worden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.