Der russische Angriffskrieg hat in der Ukraine inzwischen mehr zivile als militärische Infrastrukturen und Bauten zerstört. Der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, Kyrylo Tymoshenko, berichtete Ende Mai von über 350.000 Einrichtungen, die in den zurückliegenden 15 Monaten durch Kampfhandlungen direkt oder indirekt betroffen waren. Zu den Bauten gehören unzählige Beispiele von architekturhistorischer Bedeutung, darunter der Klub der Eisenbahnarbeiter in Charkiw. Der vom russischen Architekten Ale ksandr Dmitriev entworfene und zwischen 1927 und 1932 errichtete Kulturbau ist ein Paradebeispiel für kon struktivistische Architektur im Stil des Art déco mit stiltypischen hochwertigen Details aus Granit, Kupfer und Holz. Der Monumentalbau mit einer Fassade aus fünf markanten konkaven Flächen zeichnet sich durch eine für die Ukraine außergewöhnliche professionelle Restaurierung aus. Im März und August 2022 trafen russische Raketen den Bau zweimal, was zu einem fundamentalen Brandschaden führte. Ein wertvolles Relikt der ukrainischen Baukultur ist zerstört, wenngleich ein Wiederaufbau möglich sein wird. Der Fall zeigt schmerzlich die Grenzen der materiellen Sicherheit von Kulturgütern in einem bewaffneten Konflikt auf, und selbst eine juristische Unterschutzstellung verhindert keineswegs eine Zerstörung durch Waffenwirkung.
Kulturgutschutz als schwacher Garant für den Erhalt
Das baukulturelle Erbe unterliegt dem Schutz durch die Haager Konvention von 1954. Im Krieg oder Bürgerkrieg soll sie den beteiligten Parteien verbieten, das Objekt zu beschädigen oder gar zu zerstören. Einen Verstoß kann der Internationale Strafgerichtshof als Kriegsverbrechen ahnden, was 2016 zum ersten und bislang einzigen Mal der Fall war. Vor über zehn Jahren hatten Islamisten in Timbuktu denkmalgeschützte Bauten zerstört. Als Täter konnte der Terroristenführer Ahmad al-Faqi al-Mahdi zur Rechenschaft gezogen werden. Die Richter hatten al-Mahdi der Planung, Überwachung und teilweisen Ausführung der Zerstörung von neun Mausoleen und einer Moschee im Norden Malis für schuldig befunden und ihn 2016 zu neun Jahren Haft verurteilt. In seiner Entscheidung bewertete der Gerichtshof die Taten als Kriegsverbrechen.
Voraussetzung für eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist zunächst die Aufnahme eines Gebäudes in die UNESCO-Liste, über die das Welterbekomitee in seiner Jahressitzung berät. Die Entscheidung über die Aufnahme weiterer Denkmäler – darunter Bauten in der Ukraine – sollte im Juni 2022 in Kasan getroffen werden. Doch Russland hatte den Vorsitz inne und sagte die Sitzung ab. Beobachter sprachen in diesem Zusammenhang von einer Blockade des Komitees durch die russische Präsidentschaft. Nun findet die nächste Entscheidungsrunde im September 2023 im saudischen Riad statt.
Diese Verzögerungstaktik hat den obersten Denkmalschützern viel Kritik eingebracht. Wichtige Bauten, auch in Charkiw, stehen daher immer noch nicht auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Die ukrainische Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina formuliert ihren Unmut so: »Wir sind Zeuge geworden, wie das baukulturelle Erbe in Kriegen zu einem Spielball der internationalen Politik wird. Die Vereinten Nationen treffen Entscheidungen von rechtlicher, historischer und ethischer Bedeutung. Es ist die Entscheidung darüber, ob wir einen Preis für die Verteidigung unserer gemeinsamen Werte zahlen oder kapitulieren wollen. Im vergangenen Jahr haben sie überhaupt keine Entscheidung getroffen!« Gubkina setzt sich seit Jahren für den Schutz des konstruktivistischen Erbes in ihrer Heimatstadt Charkiw ein.
Der Krieg in der Ukraine reiht sich ein in das brutale Vorgehen der russischen Armee in bewaffneten Konflikten, in denen Zivilbauten flächendeckend zerstört werden. Beispiele sind das syrische Aleppo (2015) oder das tschetschenische Grosny (2000). »In der Ukra ine sind seit Kriegsbeginn etwa 1.800 Kulturgüter zerstört oder stark beschädigt worden«, berichtet Olena Oliynyk. Auch die Vizepräsidentin der ukrainischen Architektenkammer fordert vor dem Hintergrund des Krieges eine umfassende Erweiterung der UNESCO-Liste: »Wir sprechen hier nicht nur über ukrainisches Kulturerbe. Wenn wir ein Gebäude des Weltkulturerbes betrachten, dann sehen wir darin ein Erbe der gesamten Welt, nicht eines einzelnen Staates.«
Der Krieg als neues Szenario in Europa
Wenn der Rechtsschutz des baukulturellen Erbes im Krieg versagt, rückt der bauliche Schutz in den Vordergrund. Doch die materielle Sicherheit ist sehr begrenzt, wenn es um den Schutz gegen Raketen, Granaten oder Mörser geht. In den vergangenen 30 Jahren galt in Europa der Terror radikaler Gruppierungen als wahrscheinlichste Bedrohung. Die entsprechenden Schutzszenarien haben öffentliche Räume und die materielle Sicherheit der Architektur verändert. Alle Lehren aus den Anschlägen sind inzwischen allerdings in den Hintergrund getreten. Während die Planung besonders geschützter Gebäude meist in Friedenszeiten erfolgt, führt die Zerstörung ungeschützter Gebäude durch Krieg zu einem Zustand der Lähmung, denn sie konfrontiert uns unweigerlich mit der Frage, ob und wie Zivilbauten überhaupt vor Beschuss geschützt werden können. Denn trotz internationaler Regeln bei der Kriegsführung, zielen Militärs immer wieder auf Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser oder auch Baudenkmäler. Die Berichte aus der Ukraine belegen diese Verbrechen.
Der Einsatz von Raketen und schweren Waffen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt zu Zerstörungen in einem Ausmaß, wie es sie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Während die Wucht der Detonationen oft einstöckige Wohngebäude zerstört, dokumentieren Ingenieure an mehrstöckigen Gebäuden und Hochhäusern Schadensbilder, die in der Militär- oder Zivilschutzliteratur bestenfalls abstrakt beschrieben werden. Die erforderliche Reaktion erfordert jedoch so komplexe Entscheidungen, dass die Einsatzkräfte ihr gesamtes Wissen über Bautechnik, Brandschutz und Materialkunde zusammenführen müssen.
Die materielle Sicherheit muss sich an einem definierten Szenario orientieren, bevor die Planung beginnt. Da sich aber Gefahren schneller ändern, als Planung und Bau eines Gebäudes darauf reagieren können, müssen Architekten und Ingenieure vom Worst-Case-Szenario ausgehen. Wie beim Brandschutz geht es immer darum, den Unfall oder Angriff zu verzögern und den Schutzsuchenden so viel Zeit wie möglich zu geben, damit sie fliehen oder sich in Sicherheit bringen können. Im Falle des Krieges in der Ukraine erfüllen jedoch nur sehr wenige Gebäude die Anforderungen an den Schutz vor Bomben und Raketen. Das Schutzziel ist immer, Menschenleben zu retten. Der Erhalt von baukulturellem Erbe rückt dabei in den Hintergrund.
Obwohl die Bauvorschriften seit der Sowjetzeit die Untergeschosse von Wohnhäusern als Luftschutzräume vorschreiben, sind die Menschen einem plötzlichen Einschlag nahezu hilflos ausgeliefert. Nur spezielle Konstruktionen aus Panzerstahl schützen vor Raketen, aber auch diese versagen bei einem direkten Einschlag. Die beste Verteidigung gegen einen Raketenangriff ist daher nicht die maximale Verstärkung der Fassade, sondern Maßnahmen zur Vermeidung eines solchen Angriffs durch vorherige Flucht oder einen psychisch belastenden Daueraufenthalt in einem unterirdischen Bunker von entsprechender Bauart und Tiefe. Eine besondere Herausforderung ist die Formulierung allgemein gültiger Richtlinien oder Empfehlungen zum Schutz vor explodierenden Kriegswaffen. Selbst bei baugleichen Bauwerken hängt das Ausmaß der Zerstörung von der Art der Waffe, dem Sprengstoff, der Anzahl der Treffer und dem genauen Auftreffpunkt ab. Ein weiterer Faktor ist der bauliche Zustand des getroffenen Hauses. Auch wenn sich der Großteil des ukrainischen Wohnungsbestands auf etwa ein Dutzend gängige Serientypen und Bauweisen reduzieren lässt, können die Erfahrungen in einer Stadt nicht automatisch auf eine andere übertragen werden. Die statischen Berechnungen für ein Wohngebäude sind bestenfalls auf das Tragverhalten bei einer Gasexplosion oder einem Brand ausgelegt. Für den Einschlag eines Marschflugkörpers oder einer Fliegerbombe mit 500 Kilo Sprengkraft, die eine 2,5 Meter dicke Stahlbetondeckenplatte durchschlägt, gibt es keine Standardsimulation. Die Wirkung der Waffe hängt zudem nicht linear von ihrer Sprengkraft ab. Selbst eine Bombe mit der halben Sprengkraft durchschlägt eine zwei Meter dicke Stahlbetonplatte. Keine zivile Gebäudekonstruktion kann solchen Druckwellen oder der Hitze eines durch eine Explosion verursachten Hochtemperaturfeuers standhalten.
Der Grad der Zerstörung bei Einsatz gleicher Waffen hängt von der Bauart eines Gebäudes ab. Dabei gilt: Je monolithischer ein Gebäude ist, desto widerstandsfähiger ist seine Konstruktion gegenüber Druckwellen und Feuer. Ein Ziegelbauwerk hält der Belastung durch eine Druckwelle weniger stand als ein Betonbau, der aus Platten besteht oder als monolithisches Gebäude errichtet wurde. Das Gleiche gilt für den Fall eines Erdbebens: Bei seismischen Aktivitäten weist eine Mauer aus Mauerwerk oft schräg verlaufende Risse auf, die die Tragfähigkeit des Bauteils beeinträchtigen. Einschläge von größeren Geschossen oder Splittern führen zu ähnlichen Schäden. Unabhängig von der Bauart eines Gebäudes besteht immer die Gefahr von Glasbruch und Trümmern durch zerbrechende Bauteile. Während Schutzfolien die Verletzungsgefahr durch messerscharfe Splitter verringern können, lassen sich Splittermuster von Wänden oder Decken weder vorausberechnen noch wirksam abwehren. Wo die materielle Sicherheit versagt, können nur organisatorische Maßnahmen vor Verletzungen und Tod schützen. Doch ab wann sollten die Bewohner ihre Wohnungen vor der drohenden Zerstörung verlassen?
Sicherheitsplanung ist anlassbezogen
Die Erfahrung im Sicherheitsmanagement zeigt immer wieder: Entscheidungen und Maßnahmen werden in der Regel erst dann getroffen, wenn im Kriegsfall ein relevantes Ereignis eingetreten ist, meist unerwartet und manchmal tödlich. Obwohl es seit dem Ende des Kalten Krieges keine weit verbreitete Praxis dafür gibt, wie sich die Zivilbevölkerung in einem Angriffsszenario mit schweren Waffen verhalten soll, wurden spezielle Zivilschutzeinheiten ausgebildet, um dringende Aufgaben zu übernehmen. Dabei geht es zum einen um die schnelle Rettung und Bergung von Menschen. Zum anderen geht es darum, katastrophale Auswirkungen von Unfällen und Schäden zu verhindern. Dazu gehören das Abstützen und Aussteifen oder der Abriss von beschädigten und einsturzgefährdeten Bauwerken. Unmittelbar nach einem Raketeneinschlag oder Artillerietreffer entfernen Räumteams deshalb nicht mehr fest verankerte Bauteile und reißen betroffene Gebäude ab. Dabei steht die Sicherheit der verbliebenen Bewohner und Passanten im Vordergrund und nicht, wie man mancherorts vermutet, die eilige Unkenntlichmachung der Schäden im Stadtbild. Auch hier gilt der selbstverständliche Grundsatz: Organisatorische Maßnahmen müssen kompensieren, was materielle Sicherheit nicht mehr leisten kann. Der ukrainische Ingenieur Dmytro Makagon kommt zu dem Schluss: »Alte Gebäude, auch die vielen Plattenbauten in der Ukraine, sind in keiner Weise dafür ausgelegt, Druckwellen von Bombenexplosionen oder gar Raketentreffern standzuhalten. Insbesondere wenn ein aus großen Platten zusammengesetztes Gebäude auf einer oberen Etage beschädigt wird, kann das Gewicht der gelösten Betonplatte einen Lawineneffekt auslösen. Das Fehlen einer Platte kann das gesamte Segment zum Einsturz bringen. Diese Erfahrung haben wir bei Schadensbildern gemacht, die durch Gasexplosionen verursacht wurden.«
Die Zerstörung von Gebäuden in der Ukraine wird zu neuen Erkenntnissen darüber führen, ob und wie künftige Wohngebäude so konstruiert sein sollten, dass sie gegen Einschläge bestimmter Waffen geschützt sind. Die Vorschriften für erdbebensicheres Bauen an der Schwarzmeerküste können dafür eine Grundlage bieten. Darüber hinaus muss überlegt werden, wie gefährliche Gasleitungen so verlegt werden können, dass die Explosionsgefahr im Falle eines Unfalls verringert wird. Auch die Kriterien für die Verstärkung von Fassaden müssen praktikabel bleiben. Gerade der Schutz vor Druckwellen führt zu exponentiellen Kostensteigerungen. Handbücher und Empfehlungen aus den 1970er und 1980er Jahren sind eine gute Quelle. Seit mehr als einer Generation gelten solche Publikationen als Relikte einer vergangenen Ära. Nimmt man sie heute wieder zur Hand, so erinnert man sich an eine Zeit, in der der Katastrophenschutz eine zentrale Aufgabe des Staates war: Keine dieser Publikationen vermied eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Waffen im urbanen Raum. Sie umfassten die einfachsten Formen des Schutzes mit Vordächern zum Schutz vor Regen und Sandsäcken zum Schutz vor Splittern ebenso wie Berichte über die verheerende Wirkung von Atombombenexplosionen, bei denen im Umkreis von 100 Kilometern überall Papier verbrennt. Obwohl die Wirkung von elektromagnetischen Impulsen bereits in Lehrbüchern beschrieben wurde, konnte man sich deren Ausmaß vor 50 Jahren kaum vorstellen. Eine Atomexplosion würde das gesamte Datennetz eines Landes zerstören und eine geordnete Organisation der Notfallversorgung verhindern.