Der Streit ist als Moment des Bruchs, der Infragestellung und des Konflikts offenbar auch selbst anfällig für Krisendiagnosen. Das gilt insbesondere, wenn er sich bereits zu einer eigenen Kulturtechnik von Handlungen, Regeln und Bedeutungen verdichtet hat. Gerade in jüngster Zeit häufen sich Klagen über ein aus den Fugen geratenes akademisches Streiten. »Die faire Streitkultur an den Universitäten erscheint defekt« mahnte im Januar 2023 eine Diskussionsveranstaltung der Volkswagenstiftung. »Weltanschauungen und Emotionen« würden immer häufiger »nüchterne Argumente und kritische Einzelpositionen« dominieren. Streiten und Argumentieren ist für Wissenschaft jedoch konstitutiv. Das Problem ist nicht der Streit an sich, sondern die Art und Weise, wie er geführt wird. Streitkulturen verfügen offenbar über gewisse Spielregeln, über Werte und Normen, die einen Schlagabtausch als fair oder unfair ausweisen. Viele dieser Werte haben eine lange Geschichte und führen in die Formationsphase moderner Wissenschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert zurück. Ein historischer Rückblick auf frühmoderne Streitkulturen erweitert daher unser Reflexionswissen für die Bewertungen gegenwärtiger Konflikte.
Gerade das aufgeklärte 18. Jahrhundert wimmelte nur so von gelehrten Streitigkeiten aller Art. Viele Zeitgenossen fühlten sich mit Hobbes an einen »Krieg aller gegen alle« erinnert. Mitte des 19. Jahrhunderts spottete eine »Naturgeschichte des deutschen Studenten«: »Empfindsame Reisende und andere Naturforscher behaupten, es gäbe nirgends mehr heimliche kleine Intriguen und Kabalen und heimlichen und öffentlichen Neid und Haß, als auf den deutschen Universitäten, weil jeder einzelne Docent nicht allein glaube, Alles, sondern Alles auch am besten zu wissen, und es daher für Pflicht halte, seine Collegen, die ohne ihn beständig irren würden, durch die sanftesten und gelindesten Mittel von seiner Superiorität zu überzeugen.« Warum aber so viel Streit? In einer ständischen Gesellschaft war auch der Gelehrte ein Mann von Ehre, der in seinem Statusverhalten lange auf den Adel schielte, bis sich eigene bürgerliche Wertigkeiten etablierten. Ehre war ein prekäres und begrenztes Gut, das ständiger Anfechtung ausgesetzt war. Sie konnte kontrolliert, wie in einem Turnier oder Duell, oder unkontrolliert, wie einem spontanen Raufhandel, herausgefordert werden. An den Universitäten pflegte man mit der Disputation eine eigene agonale Kommunikation, die jedoch einem strikten Regelwerk folgte und gern als gelehrtes Theater karikiert wurde.
Übertragen in die Öffentlichkeit des gedruckten Wortes verloren sich jedoch rasch die schützenden Leitplanken, und manche Kontroverse eskalierte zum Flächenbrand. Der Streit wurde öffentlich. Was man mit Jürgen Habermas als wichtigen Schritt in die Moderne der bürgerlich-deliberativen Öffentlichkeit schätzen kann, hatte jedoch auch seine Kehrseiten. Viele Gelehrte beklagten nun nicht mehr allein den individuellen Ansehensverlust, sondern die Gefährdung der Reputation des ganzen Standes, ja der Wissenschaft an sich. Wie kann ein soziales System regelgeleiteter Wahrheitsfindung dienen, wenn sich seine Protagonisten regelmäßig »Streiten wie die Kesselflicker«? Akademiker wollten ungern mit Handwerkern verwechselt werden. Adolph Freiherr von Knigge ging 1788 im »Umgang mit Menschen« mit dem »Unwesen« ins Gericht, das man so oft unter Gelehrten wahrnehme, »die entweder wegen der Verschiedenheit ihrer Meinungen und Systeme sich vor dem ehrsamen Volke wie Bettelbuben herumzanken oder, wenn sie an demselben Orte leben und in demselben Fache auf Ruhm Anspruch machen, einander verfolgen, hassen, sich gegenseitig auch nicht die mindeste Gerechtigkeit widerfahren lassen, wie Einer dem Andern zu verkleinern und bey dem Publico herabzusetzen sucht. – Pfui! Der Niederträchtigkeit! Ist denn die Quelle der Wahrheit nicht reich genug, um zugleich den Durst vieler Tausende zu stillen (…)?« Auch gegenwärtig scheinen öffentlich ausgetragene Differenzen unter Forscherinnen und Forschern eher für Skepsis zu sorgen, wie etwa medizinische Debatten in Zeiten der Pandemie eindrücklich vor Augen führten. Anstatt widerstreitende Positionen als Ausdruck eines funktionierenden Wissenschaftssystems zu werten, wurden diese von manchen als Beleg für das Gegenteil gewertet. Publikum und Medien neigen zu einer Art Streitvoyeurismus, der manche Eskalation zu verantworten hat, aber selten pazifizierend wirkt. Ein Rückzug in den Elfenbeinturm kann nicht die Alternative sein, wohl aber etwas mehr Sensibilität der Berichterstattung.
Auch wurden Hörsäle jüngst wiederholt zu Arenen der Streitkultur, deren schützende Grenzen akademischer Freiheit in Zeiten digitaler Kommunikation jedoch schnell überschritten werden. Ein Blick auf die Medialität des Streitens fördert weitere Parallelen zutage. Das 18. Jahrhundert kannte eine breite Kultur der anonymen Veröffentlichung vom Lexikonartikel bis zur Rezension. Was als Schutz vor persönlichen Attacken gedacht sein mochte, konnte auch zu einer Option für gelehrte Heckenschützen werden, die unsichtbar ihre Gegner attackierten. Probleme, die uns aus der Welt der sozialen Medien nur allzu vertraut erscheinen. Dem Ruf nach Netiquette eilte im 18. Jahrhundert eine »moralische Ökonomie der Wissenschaft«, so Lorraine Daston, voraus, die versuchte, Fehlverhalten informell zu sanktionieren, indem man epistemische Tugenden wie Nüchternheit und Nützlichkeit bewarb, die für mehr Fairness im Streit sorgen sollten. Die Gelehrtenrepublik wurde als Gerichtshof imaginiert, der Streithähne mit Sanktionen bis zur Verbannung belegen sollte. Doch diese informellen Maßnahmen zeigten ebenso wenig Erfolg wie handfestere, in Form von universitären Ehrengerichten oder Büchern, die alle kontroversen Themen auflisten sollten, die man besser meide. Der Rechtsweg verlängerte die Konflikte nur, oft konnte nur ein fürstlicher Machtspruch die Sache beilegen. In den allermeisten Fällen kam der Streit überhaupt nicht zur Beilegung, sondern wurde schlicht durch den nächsten Streit überschrieben. Auch dies ein Phänomen, das uns aus unserer hoch medialisierten Gegenwart wohlbekannt ist. Verfahren der Schlichtung haben es schwer, wenn die Arenen kaum Grenzen kennen. Ehre ist schnell beschädigt, doch nur schwer zu reparieren. Es gehört daher zum Wertekanon der modernen Wissenschaft, Kritik nicht ad personam zu äußern, sondern sachlich vorzutragen. Wie es unsachlich geht, zeigt schnell ein Blick in Buchrezensionen bei Onlinehändlern oder in die digitalen Kommentarspalten von Nachrichtenmagazinen.
Streitkulturen zu historisieren, bedeutet jedoch weder ein relativierendes »Seht her, das gab es früher auch schon« zu bemühen, noch ein kulturpessimistisches Verlustnarrativ zu pflegen, im Sinne eines »Die alten Regeln funktionieren nicht mehr«. Die Diagnose von Defekten braucht vielmehr Kriterien und Vergleichsmaßstäbe. In den 1990er Jahren wurde angesichts einer wissenschaftlichen Hyperspezialisierung bereits ein »Verschwinden der Streitkultur« von Peter J. Brenner beklagt. Damit war nicht eine Kultur- bzw. Regellosigkeit des Streits gemeint, sondern die Tatsache, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler thematisch so kleinteilig arbeiten, dass es kaum noch zu übergreifenden Kontroversen kommt, sondern vielmehr zu einer Kultur der organisierten Ignoranz. Bereits Johann Georg Zimmermann hatte 1758 in seiner Schrift »Vom Nationalstolz« die ausgeprägte »Eigenliebe« einer streitlustigen Spezies beschrieben: »Die wechselweise Verachtung der Menschen ist unter den Gelehrten immer so deutlich als unter den eingeschränktesten Köpfen. Wenige Gelehrte halten ihre Lieblingswissenschaft nicht für den Mittelpunkt allen Wissens; die meisten sind für alles gleichgültig, was das Steckenpferd nicht betrifft, auf dem sie reiten. Der Naturforscher bekümmert sich im geringsten nicht um die Meinungen und Muthmaßungen des Sprachgelehrten. Der Kräuterkenner betrachtet den Sternkundigen als ein Wesen seines Anblickes unwürdig. Der Rechtsgelehrte hört den Namen seines Arztes ohne Verachtung nicht nennen. Er, der gross und glücklich durch das Elektrisieren einer Flasche wird, verwundert sich, dass die Welt ihre Zeit mit einem Leeren Geschwätze über Krieg und Frieden vertändelt.«
Zu den veränderten Kontexten einer modernen, hyperspezialisierten Wissenschaftskultur, die auf Kongressen lieber gleich die Sektion der Freunde besucht, als sich potenziellen Konflikten mit Gegnern oder Konkurrenten zu stellen, gehören auch gewandelte ökonomische Abhängigkeiten. War der Gelehrte des 18. Jahrhunderts der Gunst seines Landesfürsten verpflichtet, so konkurriert er heute um Drittmittel mit einer unüberschaubaren Schar von Mitbewerberinnen und Mitbewerbern. Sich »unbeliebt« zu machen kann so rasch eine anonyme und monetär sehr wirksame Gegenreaktion nach sich ziehen, auch wenn das nicht im Einklang mit den Normen der Mittelvergabe steht.
Die Einsicht in die Historizität und den Wandel von Streitkultur ist kein Aufruf zum Relativismus, sondern dafür, aktiv für die Regeln des Streitens als historischen Errungenschaften zu streiten.