Das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité ist berühmt für seine pathologisch-anatomische Sammlung, ein medizin- und kulturgeschichtlich bedeutsamer Bestand menschlicher Feucht- und Trockenpräparate. Der Direktor des Museums, Thomas Schnalke, spricht mit Maike Karnebogen über die Geschichte des Museums, die Sammlung heute und die Rolle von Hygiene im Laufe der Zeit.

Maike Karnebogen: Bereits seit 1899 gibt es an der Charité ein Museum, gegründet von Rudolf Virchow, das zunächst »Pathologisches Museum« hieß. Was war damals im Museum zu sehen?

Thomas Schnalke: Rudolf Virchow ist als Pathologe forscherisch unterwegs gewesen, aber er war auch ein begnadeter Sammler. Er hat viele Materialien zusammengetragen, um damit wissenschaftlich zu arbeiten, sie auszustellen und mit ihnen in die Öffentlichkeit hineinzuwirken. Das waren Texte, auch Bilder und Nachbildungen, aber vor allen Dingen Präparate. Über eine lange Arbeitszeit hinweg hat er letztendlich 23.066 Feucht- und Trockenpräparate des menschlichen Körpers aus seinen Sektionen aufgehoben, in seine Sammlung eingestellt und damit 1899 ein Museum eröffnet.

Welche Rolle spielte die Aufklärung über Hygiene damals?

Hygiene spielte eine ganz besondere Rolle bei Virchow. Zwar interessierte er sich für alle möglichen Krankheiten, die den menschlichen Körper betreffen konnten. Diese hat er mit seinen Präparaten enzyklopädisch gesammelt. Ein besonderes Augenmerk legte er allerdings auf große Volkskrankheiten, die durch Erreger erzeugt oder verursacht werden – die Tuberkulose etwa oder die Diphtherie und die Syphilis. Dazu trug er Präparate zusammen, die er ausdrücklich öffentlich zeigen wollte, um mit einem Bewusstmachen der Konsequenzen dieser Erkrankungen ein gesünderes Verhalten zu bewirken. Seine Vorstellungen gingen dahin, dass man als Besucherin, als Besucher des Museums die drastischen Folgen einer Tuberkulose oder einer Syphilis zu Gesicht bekommen sollte und sich dann in entsprechender Weise gesundheitsbewusster verhalten würde. Im Grunde eine sehr ähnliche Strategie wie bei den heutigen Aufklärungsbildern, die man auf den Zigarettenschachteln sieht.

Knapp 100 Jahre später, im Jahr 1998, wurde das »Berliner Medizinhistorische Museum der Charité« eröffnet. Wie kam es dazu und wie unterscheidet es sich vom ursprünglichen Pathologischen Museum?

Die Einrichtung wandelte sich auf wunderbare Weise von einem reinen Fachmuseum mit öffentlichem Anhang hin zu einem für das allgemeine interessierte Publikum komplett zugänglichen medizinhistorischen Museum. Dazwischen liegt jedoch eine sehr leidvolle Strecke. Das 20. Jahrhundert ist über Deutschland, über die Medizin, über die Charité und letztendlich auch über das Museum in einer teilweise höchst brachialen Weise hinweggezogen. Im Zweiten Weltkrieg kamen an der Charité Menschen zu Schaden, es wurden Gebäude zerstört oder schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Sammlung, die Virchow zusammengetragen hatte und die von seinen Nachfolgern erweitert worden war, wurde durch Bombentreffer stark dezimiert. Von etwa 35.000 Stück in den frühen Kriegsjahren wurde die Sammlung regelrecht heruntergebombt auf etwa 1.800 Stück. Nach Kriegsende wurde das Gebäude Charité intern zunächst für andere Zwecke genutzt. Erst spät in der DDR-Zeit griff man die Idee wieder auf, dort abermals einen Museumsbetrieb aufzuziehen. Anfangs stand der Wunsch im Vordergrund, erneut ein Fachmuseum à la Virchow einzurichten. Doch dann kam die Wende und man befand sich mit Medizinhistorikern vor Ort, aus dem Museumsgebäude Virchows ein Medizinhistorisches Museum für Berlin zu machen. Diese Änderung in der Namensgebung, in der Programmatik, konnte mit der Wiedereröffnung 1998 umgesetzt werden. Bis heute werden im Medizinhistorischen Museum durchaus sehr zentral Virchow-Objekte gezeigt. Aber das ganze Framing, die Kontextualisierung ist eine komplett andere. Es geht nicht primär um die Aufklärung über bestimmte Krankheiten und um ein besseres Gesundheitsverhalten. Im Vordergrund steht ein Gang durch 300 Jahre naturkundliche, naturwissenschaftliche Medizin in der Dauerausstellung. In seinen Sonderausstellungen werden, historisch abgeleitet, verschiedenste medizinische Themen in ihrer wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und ethischen Dimension aufgegriffen.

Was zeigt die Sammlung des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité heute? Und welche Rolle spielen die Themen Gesundheit und Hygiene in Ihren Ausstellungen?

Das Museum ist ein universitäres Medizinmuseum. Das heißt, als Museum macht es klassischerweise das, was ein Museum tut: Sammeln, Erhalten, Bewahren, Erschließen. Als universitäre Einrichtung sind wir allerdings auch in der Forschung und in der Lehre aktiv sowie in der öffentlichen Vermittlung. Wir verfügen über sehr viele Objekte aus der reichen Geschichte der Charité, die immer auch durch Seuchen- und Hygienekonstellationen in ihrer Entwicklung beeinflusst war: die Pest im Jahre 1710, die Cholera im 19. Jahrhundert, Tuberkulose und Diphtherie im 19. und 20. Jahrhundert, bis hin zu COVID-19 in unseren Tagen. Zeugnisse all dieser Herausforderungen aus bakteriologischer und viraler Richtung sammeln wir, stellen sie in unsere Bestände ein und zeigen sie in der Dauerausstellung. So gibt es neben den vielen Virchow’schen Präparaten mit allen möglichen häufig auch infektiösen Krankheiten eigene Strecken, etwa zur Herausbildung der Bakteriologie in Berlin. Wir rufen Robert Koch auf mit seiner Entdeckung des Tuberkulose-Bakteriums 1882 und der Präsentation eines vermeintlich sehr wirksamen Gegenmittels, des Tuberkulins, im Jahre 1890, das sich leider als Flop herausstellte. Es werden Objekte gezeigt, an welchen sich die Fachgenese von Serologie und Immunologie ablesen lässt. Außerdem gehen wir darauf ein, dass Paul Ehrlich – lange arbeitete er als Arzt an der Charité – im frühen 20. Jahrhundert mit Salvarsan das erste chemotherapeutische Antibiotika gegen Syphilis entwickelte. Dies sind zentrale Themen, die wir im Museum in ihrem geschichtlichen Kontext zeigen. Anders gesagt, unser Narrativ ist ein allgemein historisches. Darin streuen wir unterschiedliche Themen ein, die die Medizin in ihrer reichen und bisweilen auch wechselvollen Geschichte über die letzten 300 Jahre hinweg umgetrieben hat.

Was können wir aus dem Museum bzw. seiner medizinhistorischen Sammlung noch über Hygiene lernen? Welche Entwicklungen sind ggf. zu erkennen?

Die Aspekte Hygiene und Bakteriologie sind generell für die Entwicklung der modernen Medizin ganz entscheidend. Eine besonders wichtige Dimension des Hygienethemas ist das saubere und schmerzfreie Operieren. Hierzu findet sich in der Ausstellung eine große Vitrine, in der die operativen Verfahren vor 1850 und nach 1850 einander gegenübergestellt werden. Dort sieht man: Es gab eine alte Chirurgie, die mit einfachen Mitteln schon sehr viel konnte, die aber noch kein Verständnis hatte von Erregern, einer Antisepsis und später dann auch von Asepsis. Diese Entwicklungen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorangetrieben, gerade auch in Berlin. Hierzu zeigen wir entsprechende Sterilisatoren, aus Metall gefertigte Narkosemasken oder andere Geräte, die ein hygienisches Zeitalter in der Medizin belegen.

Welche Objekte sind darüber hinaus von besonderem Interesse?

Wir haben natürlich sehr viele Präparate ganz unterschiedlicher Krankheiten, und hinter jedem Präparat findet sich eine individuelle Geschichte. Ein Präparat z. B. ist so groß, dass es gar nicht in unseren Vitrinen Platz hat. Es handelt sich um einen massiv aufgetriebenen Dickdarm, Folge einer Innervationsstörung in einem Darmsegment. Ein weiteres Objekt, das ich sehr spannend finde, ist ein historischer Augenspiegel, von Hermann von Helmholtz 1850 entwickelt. Mit diesem Augenspiegel ging es quasi los, dass man dem Leben beim Leben zuschauen konnte. Ein menschlicher Körper ließ sich erstmalig in seinen Funktionen, in seinen Hohlräumen, in seinen Innenräumen in voller Aktion betrachten. Ein weiteres Objekt ist ein sogenannter Blauer Heinrich. Es handelt sich um eine kleine blaue Taschenspuckflasche, die man in Tuberkulose-Sanatorien den Patientinnen und Patienten ausgab, damit sie nicht einfach achtlos ins Gelände ausspuckten, sondern dort hinein. Der Auswurf wurde dann gesondert entsorgt – eine sehr hygienische Maßnahme.

Aktuell befindet sich das Museum im Umbau – was erwartet Besucherinnen und Besucher zukünftig?

Der Umbau betrifft das gesamte Museumsgebäude mit sämtlichen Etagen. Im Wesentlichen zielt er darauf ab, die Infrastruktur museal auf einen guten Stand zu bringen. Das Gebäude, wie gesagt 1899 erbaut und eröffnet, ist sehr alt. Seither gab es nie eine grundsätzliche Sanierung. Die bauliche Ertüchtigung war dringend notwendig und überfällig. Das Museum wird einen neuen Look erhalten, der gesamte Eingangsbereich wird neu gestaltet. Zudem richten wir eine Art Schaulabor ein. Dort können die Besucherinnen und Besucher der Präparatorin auf Voranfrage über die Schulter schauen, wenn sie Präparate restauriert.

In allen Ausstellungsebenen wird es ein sehr viel besseres Raumklima geben, für die Objekte und für die Besucherinnen und Besucher gleichermaßen, damit keine Ohnmachten mehr produziert werden. So etwas kam bei uns in der Vergangenheit tatsächlich hin und wieder vor. Weil wir noch keine klimatischen Regulierungen hatten und die Luftverhältnisse im Zusammenklang mit den emotionalisierenden Themen nicht für jedermann ein besonderes Vergnügen waren. Unsere Dauerausstellung werden wir mit Bedacht aktualisieren, und wir nehmen unseren ambitionierten Wechselausstellungsbetrieb wieder auf. Für die Wiedereröffnung ist eine große Sonderausstellung zu dem Thema »Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst« und eine interventionistische Ausstellung zu einem besonderen Aspekt im Umgang mit Krebs vorgesehen. Bei letzterer fragen wir, welche Rolle Gefühle im Zusammenhang mit dieser Erkrankung im 20. Jahrhundert spielten: Wie hat man über Krebs gesprochen, wie wurde über Krebs aufgeklärt? Welche emotionalen Aspekte finden sich in den klassischen therapeutischen Ansätzen: Operieren, Bestrahlung und Chemotherapie? Und wie empfinden heutige Akteure die Gegenwart der Diagnostik, der Behandlung und der Forschung über Krebs?

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.