Früher lebten nur selten ältere Menschen allein im Haus: Die Großmutter oder der Großvater wohnten bei den erwachsenen Kindern und den Enkeln oder nebenan im sogenannten Auszugshaus, dem Altenteil. Drei Generationen unter einem Dach sieht man heute kaum noch, weil die persönliche Freiheit gewachsen ist, während der familiäre Zusammenhalt schrumpfte. Als Folge dieses gesellschaftlichen Wandels leben viele Ältere in zu groß gewordenen Wohnungen oder im großen Haus. Dieses Alleinsein führt oft zu Einsamkeit. Einen Ausweg bieten Wohnpartnerschaften zwischen Jung und Alt. Dabei bilden sich Wahlverwandtschaften zwischen Wohnpaaren. Diese Form des Zusammenwohnens belebt leerstehende Kinderzimmer oder Einliegerwohnungen, sie mobilisiert ungenutzten Wohnraum. Darum hilft das soziale Modell der Wohnverwandtschaften angespannten Wohnungsmärkten.
International nennt man es Homeshare, Wohnpaare aus Jung und Alt zu verbinden. Vermittlungsagenturen bringen passende Paare zusammen. Sie begleiten das Kennenlernen und das Zusammenwohnen. Anstelle einer Familie sichert die Agentur beide Seiten gegenseitig ab: Ein älterer Mensch möchte wissen, wen er oder sie ins Haus lässt. Umgekehrt möchte eine junge Person wissen, zu wem sie kommt. Falls die Chemie nicht stimmt und Probleme auftauchen, reicht ein Griff zum Telefon, und die Homeshare-Agentur greift ein.
Sie vermittelt ein Zusammenwohnen der Generationen, bei dem Jung und Alt sich gegenseitig helfen: Die Älteren bieten Wohnraum und Lebenserfahrung. Die Jüngeren helfen beim Smartphone oder packen im Haus und Garten an. In manchen Modellen wird festgelegt, welche Unterstützung wie viele Stunden pro Woche die Jüngeren leisten. Andernorts wird vereinbart, dass die Jüngeren eine bestimmte Zahl von Nächten pro Woche im Haus verbringen oder einige Wochenenden. In solchen Modellen zahlen die Jüngeren kaum oder kein Geld in die Wohnungskasse. In anderen Varianten gibt es keine formelle Verpflichtung zur Unterstützung, dafür beteiligen sich die Jüngeren stärker an den Wohnkosten. So oder so geht es nie um Pflege, höchstens um Hilfe.
Homesharing bringt seit 50 Jahren Menschen zusammen, in 17 Staaten. Darunter sind so unterschiedliche Kulturen wie Deutschland und Spanien, die USA, Australien und sogar Korea. Offenbar wünschen sich Menschen weltweit Nähe, und sie interessieren sich für den Austausch der Generationen. Das zeigt auch die Vielfalt der Menschen, die bei Homeshare mitmachen: Die Älteren sind im Durchschnitt an die 80 Jahre alt, darunter Hundertjährige, andere sind noch nicht im Rentenalter. Die Jüngeren sind oft Studierende, aber auch Auszubildende. Das Modell funktioniert in Millionenstädten wie Brüssel, wo pro Jahr 450 Jung-Alt-Wohnpaare zusammengebracht werden. Die belgische Organisation 1toit2ages vermittelt Hunderte weitere in kleineren Orten bis herunter nach Chaudfontaine mit nur 15.000 Einwohnern.
1toit2ages arbeitet im französischsprachigen Landesteil und hat dort in 16 Jahren über 5.000 Wohnpaare verbunden. Von den Senioren empfehlen 97 Prozent das Modell weiter. Ähnlich erfolgreich arbeitet Ensemble2générations in Frankreich mit einer Zentrale in Paris und Franchise-Partnern im ganzen Land. In London konkurrieren ein Dutzend Homeshare-Anbieter miteinander. Viele von ihnen arbeiten dank Gebühren kostendeckend; sie sind finanziell unabhängig.
Leider sieht es in Deutschland anders aus. Zwar arbeiten hier etwa 35 Vermittlungsstellen des Modells »Wohnen für Hilfe«. Zwei Drittel von ihnen verfügen aber noch nicht einmal über eine halbe Personalstelle. Dementsprechend gering sind die Erfolge: Zwei Drittel vermitteln weniger als zehn Wohnpaare im Jahr. Auch deswegen wurde seit den 1990er Jahren jedes zweite »Wohnen für Hilfe«-Projekt wieder eingestellt. Das liegt zudem an der mangelnden Finanzierung. Weltweit werden Gebühren für die Vermittlungsarbeit genommen, nur in Deutschland wird sie kostenlos angeboten. Darum sind die Vermittlungsstellen vollkommen abhängig von Geldgebern wie einem Studierendenwerk oder einer Kommune. Es fehlt eine Kultur des Professionellen im Sozialen. Man verlässt sich oft nur auf Ehrenamtliche oder Teilzeitkräfte. In anderen Ländern fehlt das gute deutsche Sozialsystem, doch aus dieser Schwäche folgt eine Stärke: Man ist es dort gewohnt, auch im sozialen Bereich finanziell stabile Systeme aufzubauen.
Wer Homeshare in Deutschland so erfolgreich aufbauen möchte wie in anderen Ländern, sollte nach internationalen Standards vorgehen, mit Vollzeitkräften und angemessenen Gebühren. Würden wir das so professionell anpacken wie die Belgier, könnten 30.000 junge Leute pro Jahr mit Wohnraum versorgt werden. Jedes einzelne Wohnpaar bringt junge und alte Menschen zusammen und bereichert ihr Leben.