Seitdem es Städte gibt, gibt es Wohnkrisen und Obdachlosigkeit. Um zu verstehen, wie Kleinstwohnungen einen Beitrag leisten können, hilft ein Exkurs in die Automobilbranche.
Haben Sie schon mal in einem Gran Torino gesessen? Dumme Frage – wer hat das schon. Hollywood-Legende Clint Eastwood hat in dem gleichnamigen Film den Ford Gran Torino 2007 auf die Leinwand gebracht. Was macht ein gutes Auto aus? Welche Rolle spielt seine Länge? Mit 5,26 m gehört der Torino zu den Autos, die auf einem IKEA-Parkplatz nicht mehr in die Parkbuchten passen. Auf der Straße fahren LKWs, Linienbusse, Limousinen und PKWs. Sie unterscheiden sich in ihrer Länge. Ähnlich ist es im Immobilienmarkt: Da gibt es beispielsweise Fabrikhallen, Hotels, Penthouse-Apartments und Wohnungen. Sie unterscheiden sich in ihrer Größe. Noch etwas haben die beiden Branchen gemeinsam: Sie erfüllen nicht nur den Zweck der Fortbewegung oder den des Schutzes vor Witterung. Sondern – und das ist das, was viele Mobilitäts- und Wohnforschende unbeleuchtet lassen – dienen vor allem als Identitätsmarker. Mit einem Gran Torino kann ich mein Selbstkonzept aufwerten. Ein Auto kann mich von A nach B bringen. Aber das ist nur der letzte Beweggrund, um sich in einen Gran Torino zu setzen. Wenn Architekturbüros Wohnungen entwerfen, dann geht es um die Funktion: wohnen, kochen, schlafen und baden. Das Ergebnis: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer und Bad. Dabei scheint es nur Typen zu geben, die ihre Nutzung beschreiben: Single-Wohnung, Familienwohnung, Werkswohnung, Atelierwohnung usw. Die Automobilbranche weiß, dass es um mehr geht. Nämlich gerade nicht darum, von A nach B zu kommen. Es geht darum, von unten nach oben zu kommen. Von unbedeutend zu besonders – um einen sozialen Aufstieg. Bestimmte Automarken sind aufgeladen mit Verheißungen, sei es Technoglaube (Audi), Fortschritt (Tesla), Gangsta-Attitude (BMW), Abenteuer (Jeep), Optimismus (Käfer) oder kalifornische Freiheit (VW-Bully). Was sind eigentlich die Verheißungen einer Dreizimmerwohnung bei Vonovia oder einer barrierefreien Zweizimmerwohnung von der Howoge, Europas größtem landeseigenen Wohnungsunternehmen?
Wenn ich als Architekt beauftragt werde, Wohnungen zu entwerfen, beschreiben meine Bauherren ihre Wünsche folgendermaßen: Maximale Auslastung durch Einzimmerwohnungen pro Geschoss; Wohnungen nach einem bestimmten Schlüssel; Klickvinyl-Fußboden. Sie sagen nicht: Ich will ein Haus, welches für Abenteuer steht, mit einem Eingang, der Optimismus ausstrahlt und Fenstern, durch die man in die Freiheit sieht.
Ein weiteres Phänomen offenbart sich in beiden Branchen: das Phänomen des Wohlstands. Sowohl Autos als auch Wohnungen werden immer größer. Der neue Golf VIII (LÄNGE: 4,28 m) ist einen halben Meter länger als der Golf I von 1974 und sogar 4 cm länger als Deutschlands meistverkaufter SUV: T-Roc (4,24 m). Jedes dritte zugelassene Auto ist mittlerweile ein SUV.
Bei den Wohnungen in Deutschland ist es ähnlich. Noch 1995 betrug der Wohnflächenverbrauch in Deutschland 36 qm pro Einwohner, in den letzten dreißig Jahren ist dieser Wert um 20 Prozent auf über 47 qm angestiegen. In Berlin liegt der Wohnflächenkonsum laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin bei 39,1 qm durchschnittlich. Im Vergleich: In Warschau (32,4 qm), Paris (31,0 qm) und London (29,5 qm) wohnen die Menschen kleiner.
Beide Branchen leiden an Übergewicht.
Schauen wir uns die Bestseller unter den PKWs mal näher an. Das erfolgreichste Auto von Volkswagen ist wortwörtlich ein Wagen für breite Bevölkerungsschichten: der VW Golf. Im letzten Jahr hat der Tesla Model Y (LÄNGE: 4,79 m) den Bestseller Toyota Corolla (LÄNGE: 4,37 m) abgelöst. Wenn die deutsche Seele ein Auto wäre, dann vermutlich ein VW Golf. Wenn die deutsche Seele eine Wohnung wäre, dann vermutlich eine 95,4 qm große Zweizimmerwohnung in einer Doppelhaushälfte.
Der Durchschnitt fährt einen Viersitzer-Golf, doch es gibt auch Bestseller mit vier Sitzen, die kleiner sind als der Golf: z. B. Ford Fiesta (LÄNGE: 4,04 m) und Renault Twingo (LÄNGE: 3,70 m). Traurigerweise haben beide nicht überlebt. Der Marktführer unter den Kleinstwagen ist einer, der kleiner ist: Fiat 500 (3,55 m). Übertragen auf den Wohnungsmarkt könnte man diese mit der kleinsten Einzimmerwohnung im Portfolio der großen Wohnungsbauunternehmen vergleichen: Wohnungsbauserie (WBS)70-Wohnung (36 qm), Howoge (32 qm), Berlinovo (30 qm). All diese Wohnungen sind ausgestattet mit einem Zimmer, zuzüglich Badezimmer, Küchenraum, einem Abstellraum und einem Dielenraum. Rein rechnerisch sind es vier Räume. In chinesischen und thailändischen Großstädten bekommt man auf 30 qm sogar zwei abgetrennte Zimmer. Das geht nur, wenn man die deutschen Standards verlässt und beispielsweise die Diele weglässt, die Küchenzeile kürzer gestaltet und Betten mit 140 cm Breite vorsieht, ohne Beistelltische auf beiden Seiten. In Seoul, Delhi und Paris gibt es Wohnungen, die 9 qm groß sind. Und hier unterscheidet sich die Angebotsvielfalt der Automobilbranche von der Wohnungsvielfalt der Immobilienbranche.
Es gibt Autos, die den Standard mit vier Sitzen unterbieten: Der Smart For Two (Länge: 2,5 m) und den Einsitzer Renault Twizy (LÄNGE: 2,3 m). Warum entwickeln wir nicht auch den Smart unter den Wohnungen? Eine Einzimmerwohnung ohne Diele, bei der die Wohnungstür direkt in die Wohnküche mündet, wie man es aus New Yorker Soaps kennt. Es gibt keine Einzimmerwohnung, in der das Bad kompakt wie im in Wohnmobil gestaltet und die Duschwanne im Boden integriert ist. Dabei wäre es baurechtlich durchaus möglich, die Wohnungen kleiner zu planen. Es gibt im geförderten Sozialwohnungsbau nur Angaben zur Maximalfläche, nicht zur Mindestgröße. Diese ist definiert im Wohnungsaufsichtsgesetz, wonach die kleinste mögliche Wohnung 9 qm Wohnfläche hat.
Kann man auf 9 qm gut leben? Kann man mit einem Twizy gut fahren? Kommt drauf an. Es reicht nicht für eine Familie und auch nicht für lange Strecken. Zum Angeben vermutlich auch nicht. Es reicht aber, um sich schnell durch den Verkehr zu manövrieren. So auch die Kleinstwohnung: Sie kann Menschen den Zugang zur Mitte der Stadt ermöglichen, um teure Innenstädte diverser zu machen. In Hongkong, Delhi, Seoul und Paris sind Kleinstwohnungen fest im Angebotsmarkt verankert und können vermeiden, dass Menschen mit wenig Einkommen auf der Straße landen.
Die österreichische Zeitung Standard berichtete 2018 von einem 71-jährigen Bibliothekar, der seit 25 Jahren in einem 5 qm großen WG-Zimmer, einem so genannten »Chambre de Bonnes«, wohnt. Er zahlt 250 Euro Miete. Während die meisten Journalisten darin einen Skandal sehen, bewerte ich das anders. Ich sehe das so, dass es mitten in Paris, einer der teuersten Städte der Welt, möglich ist, zu wohnen – mit einem Gehalt, das selbst Azubis aus eigenen Kräften aufbringen können. Das ist besser, als ständig bei Freunden auf dem Sofa zu schlafen.
So, wie es nicht die Länge ist, die darüber entscheidet, wie geeignet ein Auto für den Menschen ist, ist es auch bei Wohnungen nicht die Quadratmeterzahl. Das Not-Hotelzimmer in Berlin ist gerade mal 2,5 qm groß, ist aber mit einer eigenen kleinen Küche und einer Trelino-Toilette unter der Fensterbank ausgestattet. Es gibt kein fließendes Wasser, sondern nur Wasser aus einem Kanister. Es steht Obdachlosen im Winter zur Verfügung. Was für viele Menschen wie ein neoliberaler Albtraum klingt, ist für Dutzende Obdachlose eine willkommene Alternative zu den Massenunterkünften oder dem kalten Straßenpflaster. Die Größe ist weniger entscheidend, als man denkt.
Das Bedürfnis nach Rückzug ist unabhängig von der Zimmergröße. Das Gefühl von Freiheit entspringt nicht der Größe eines Autos. Bei der Wohnung ist es ähnlich, viele Menschen wie Marie Kondo sind reich geworden mit Tipps zur Frage, wie man ausmistet. Es geht um den Sieg über das krankhafte Bedürfnis der Menschen, Dinge zu horten. Wer weniger Bodenfläche und Schränke hat, muss auch weniger putzen und konsumieren, um all die Regale zu füllen. Man gewinnt Zeit. Und lernt, die Angebote der Stadt mehr zu nutzen: öffentliche Bäder, Parks, Bibliotheken. Ähnliche Gedanken dürfte Clint Eastwood gehabt haben, als er sich ein Auto zugelegt hat. Es ist kein Gran Torino geworden, sondern ein Fiat 500. In einem Interview sagte er, dass er in LA mit dem Cinquecento nicht lange nach einem Parkplatz suchen muss. Die Freiheit ist da draußen, nicht in der Wohnung. Egal, wie groß diese ist, man wird sie darin nicht finden.