Wenn ich die Tür zur Museumswohnung in der Hellersdorfer Straße 179 öffne, trete ich in eine andere Zeit. Die Gegenwart bleibt draußen. Meine Füße sinken in den Spannteppich, und augenblicklich stellt sich Vertrautheit ein. Ein kaum zu beschreibender Duft steigt auf – und mit ihm Erinnerungen: an die Räume meiner Kindheit, an das Zuhause der Großeltern. In solchen Momenten wird Geschichte unmittelbar erfahrbar – auf eine Weise, die keine Vitrine und kein Ausstellungstext vermitteln können.

Die Museumswohnung vom Typ WBS 70 in Berlin-Hellersdorf wurde 2004 eröffnet. Ihre Entstehung geht auf ein Projekt der EXPO 2000 und die Sanierung des sogenannten Grabenviertels zurück. Im Zuge der Arbeiten wurde beschlossen, eine Wohnung im Originalzustand zu erhalten. Möbel, Bücher, Geschirr und Geräte stammen überwiegend aus Spenden – von Mieterinnen und Mietern, Mitarbeitenden und Nachbarinnen und Nachbarn, die ihre persönlichen Erinnerungen beisteuerten. So entstand ein authentischer Ort, der zeigt, wie Millionen Menschen in der DDR tatsächlich wohnten.

Mit ihren 61 Quadratmetern steht die Dreiraumwohnung exemplarisch für den meistgebauten industriellen Wohnungsbautyp der DDR. Allein in Hellersdorf entstanden in den 1980er Jahren rund 40.000 solcher Wohnungen. Innerhalb von nur 18 Stunden konnte eine Einheit montiert werden – eine technische Meisterleistung der Serienfertigung. Doch die Museumswohnung verdeutlicht: Hinter der Standardisierung entwickelte sich eine eigenständige Wohnkultur. Glasvasen, ein Kunstdruck von Walter Womacka oder ein typisches DDR-Radio erzählen vom Wunsch, trotz eingeschränkter Auswahl ein wohnliches, individuelles Zuhause zu schaffen. Viele Menschen waren erfinderisch: Möbel wurden getauscht, Räume umfunktioniert, aus vorhandenen Materialien Neues geschaffen. So entstand Persönlichkeit und Wärme in einem genormten Umfeld.

1989 lag das durchschnittliche Bruttomonatsgehalt bei etwa 970 Mark der DDR. Die Miete einer solchen Wohnung betrug rund 109 Mark, die Einrichtung dagegen ein Vielfaches – teils über 10.000 Mark. Ein Farbfernseher war ein begehrtes Statussymbol, auf das viele Jahre gespart wurde.

Während im Westen Konsumgüter leichter zugänglich waren, prägte im Osten die Planwirtschaft die Gestaltungsmöglichkeiten. Aus dieser Situation entwickelte sich eine eigene ästhetische Haltung, die heute unter dem Begriff Ostmoderne diskutiert wird: funktionale Möbel, klare Linien, charakteristische Farbwelten und eine reduzierte, aber selbstbewusste Gestaltungsästhetik – Ausdruck von Pragmatismus und Kreativität.

Die Museumswohnung macht besonders deutlich, wie Menschen Standardisierung kreativ ausfüllten. Trotz genormter Architektur zeigen die Räume persönliche Akzente, Geschmack und kulturelle Vielfalt – hier wurde Standard zum Zuhause. Heute erfüllt die Museumswohnung weit über den Erinnerungswert hinausgehende Funktionen. Sie wird von Schulklassen und Studierenden besucht, von Touristinnen und Touristen besichtigt und dient immer wieder als Kulisse für Filme oder Musikvideos. Der freie Eintritt macht sie für alle zugänglich – ein bewusst gesetztes kulturpolitisches Signal. Hier geht es nicht um Nostalgie, sondern um Bildung, Teilhabe und kritisches Erinnern.

Vor dem Hintergrund aktueller Wohnungsdebatten gewinnt die Rückschau neue Relevanz. Fragen nach bezahlbarem Wohnraum, nach seriellen Bauformen und nach der Balance zwischen Funktionalität und Lebensqualität stehen wieder im Zentrum gesellschaftlicher Diskussionen. Der WBS 70 war ein Versuch, durch industrielle Fertigung breiten Bevölkerungsschichten Wohnraum zu sichern. Die Museumswohnung eröffnet einen Reflexionsraum: Was können wir aus der Vergangenheit lernen, um die Zukunft des Wohnens sozial, ästhetisch und kulturell verantwortungsvoll zu gestalten?

Sie lädt zum Innehalten ein. Standardisierte Räume, durch persönliche Akzente zu einem Zuhause verwandelt, machen DDR-Alltag erfahrbar – historisch, sinnlich, gesellschaftlich bedeutsam. Sie zeigt, wie Menschen wohnten, lebten und träumten, und fordert uns zugleich heraus, das Wohnen der Gegenwart nicht nur technisch oder ökonomisch, sondern auch kulturell und gesellschaftlich zu begreifen. Denn Wohnkultur ist immer auch Gesellschaftskultur – damals wie heute.

Mehr dazu online unter: stadtundland.de/museumswohnung

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2025.