Woran denken wir, wenn wir »Zuhause« hören? An Kindheit, Familie, Geborgenheit – oder an steigende Mieten, Wohnungsmangel und Heizkosten? Im besten Fall ist Wohnen ein Ort der Sicherheit und doch weit mehr als ein privater Rückzugsort: Wohnen erzählt immer auch vom Zustand einer Gesellschaft – es ist eine soziale Praxis, die tief in unsere sozialen und räumlichen Strukturen eingreift.

 

Wohnen im Kontext gesellschaftlicher Transformation

Seit den 1990er Jahren prägen Globalisierung, Digitalisierung, Migration und Finanzmärkte die Art, wie wir leben und wohnen. Diese Entwicklungen bringen sozio-kulturelle, technologische und ökonomische Herausforderungen mit sich, die sich im Alltag verdichten – in unseren Nachbarschaften, Häusern und Städten. In Zeiten des demografischen Wandels, wachsender Ungleichheit und ökologischer Krisen wird Wohnen zur Schlüsselfrage unserer Gegenwart. Wie wir bauen, teilen, heizen und uns einrichten, zeigt, welche Werte wir als Gesellschaft vertreten. Wohnformen sind nie zufällig: Sie spiegeln soziale Normen, politische Rahmenbedingungen und kulturelle Leitbilder. Wohnen ist damit nicht nur eine Frage der Architektur, sondern des Zusammenlebens – und der Aushandlung dessen, was wir unter Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft verstehen.

Das Leitbild der klassischen Kleinfamilie prägt vielerorts politische Programme und Planungslogiken, doch die Realität ist längst vielfältiger. Patchwork- und Regenbogenfamilien, Alleinerziehende, gemeinschaftliche Wohnprojekte, migrantische Mehrgenerationenhaushalte und die wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten stehen für neue Lebensweisen. Mobilität, Migration und digitale Arbeit bringen flexible, oft temporäre Wohnformen hervor – zwischen Bleibe, Pendelwohnung und digitalem Nomadentum. Wohnen wird fluider: vom Besitz zum Gebrauch, vom Rückzugsort zum Netzwerkraum.

Zugleich erleben viele Menschen prekäre Wohnbedingungen – überteuerte Mieten, beengte Räume, ständige Unsicherheit. Temporäre Wohnformen werden so zur neuen sozialen Norm und fordern Stadtpolitik und Baupraxis, Antworten auf Mobilität, Erschwinglichkeit und Zugehörigkeit zu finden. Die wachsende Vielfalt des Wohnens zeigt zwar gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit, legt aber zugleich Brüche offen: Wer wie wohnt, hängt heute stärker denn je von Alter, Einkommen und sozialem Status ab.

 

Neue Wohnkulturen: Gemeinschaft statt Isolation

Der demografische Wandel verschärft bestehende Ungleichheiten: Ältere Menschen leben oft in zu großen, energetisch aufwendigen oder nicht barrierefreien Wohnungen, während Jüngere, Studierende oder Familien kaum bezahlbaren Wohnraum finden. Diese demografische Schere führt zu wachsender sozialer Polarisierung. Über 50 Prozent der über 65-Jährigen leben im Eigentum (Statistisches Bundesamt 2023), während Jüngere meist stärker von hohen Angebotsmieten betroffen sind (ifo-Institut).

Hinzu kommen Pflegeengpässe, Einsamkeit und ein Mangel an gemeinschaftlich nutzbaren Infrastrukturen – Herausforderungen mit sozialen und räumlichen Folgen. Zwischen 2025 und 2035 werden rund 13 Millionen Menschen der sogenannten Babyboomer-Generation in den Ruhestand treten (Statistisches Bundesamt 2024) – viele von ihnen sind künftig auf altersgerechte und gemeinschaftsorientierte Wohnformen angewiesen.

Vor diesem Hintergrund entstehen Wohnkonzepte, die auf Kooperation und Solidarität setzen. Co-Living-Projekte, Mehrgenerationenhäuser und Genossenschaften reagieren auf Einsamkeit, Pflegeengpässe und den Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Sie schaffen Orte, die Gemeinschaft ermöglichen, ohne Privatheit aufzugeben, und verstehen Wohnen als sozialen Raum – als Infrastruktur geteilter Verantwortung. In ihrer Vielfalt spiegeln sie die gesellschaftliche Suchbewegung nach Bindung, Sicherheit und Zugehörigkeit. Damit erweitern sie den Blick auf Wohnkultur: Wohnen wird hier zum Ausdruck gelebter Demokratie im Alltag.

 

Wohnen als Sorgearbeit – feministische Perspektiven auf Wohnkultur

Wohnen ist immer auch Sorgearbeit. Putzen, Pflegen, Einkaufen und emotionale Fürsorge – Tätigkeiten, die meist unsichtbar bleiben und überwiegend von Frauen geleistet werden. Eine feministische Perspektive erinnert daran, dass das Zuhause nicht nur Rückzugsort ist, sondern Ort der Reproduktion: von Geborgenheit, Stabilität und Identität. In der aktuellen Forschung wird Wohnen zunehmend als Teil der Sorgeökonomie verstanden – als System alltäglicher Praktiken, das gesellschaftliche Reproduktion und soziale Gerechtigkeit verknüpft. Gerade in Zeiten von Pandemie, Klimakrise und Pflegeengpässen zeigt sich: Sorge ist keine private Aufgabe, sondern eine gesellschaftliche Infrastruktur. Wohnpolitik muss daher auch als Sorgepolitik gedacht werden – mit Räumen, die Pflege, Teilhabe und Solidarität ermöglichen.

Mit dem Renteneintritt der Babyboomer wächst der Bedarf an altersgerechten, gemeinschaftsorientierten und gut angebundenen Wohnformen rapide. Eine zukunftsfähige Wohnkultur muss diese Entwicklung räumlich, sozial und ästhetisch integrieren. Es geht darum, Wohnräume zu schaffen, die generationenübergreifendes Zusammenleben ermöglichen, Pflegebedarfe auffangen und soziale Netzwerke im Quartier und der Region stärken – als Teil einer Wohnpolitik, die den demografischen Wandel aktiv gestaltet. Damit wird Wohnen zur Frage sozialer Gerechtigkeit: Architektur und Stadtplanung sind nie neutral; sie strukturieren Beziehungen, Zugänge und Ausschlüsse.

 

Wohnen zwischen Markt und Gemeinwohl

In der Stadtentwicklung zeigt sich die Spannung zwischen Marktlogik und Gemeinwohl besonders deutlich. Innenstädte werden zunehmend durch investitionsgetriebene Projekte geprägt, während der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum sinkt. In Berlin, München oder Frankfurt entstehen glänzende Neubauten, deren Fenster nachts dunkel bleiben – Wohnungen als Kapitalanlagen, nicht als Lebensräume. Diese Leere im Stadtraum steht sinnbildlich für den Verlust sozialer Bezüge im urbanen Gefüge. Damit verschiebt sich das Verhältnis von sozialer Verantwortung und ökonomischem Kalkül: Tätigkeiten der Sorge und sozialen Reproduktion werden in einer auf Effizienz und Marktlogiken ausgerichteten Stadtpolitik leicht übersehen – obwohl sie die Grundlage jedes funktionierenden Gemeinwesens bilden.

Eine zukunftsorientierte Wohnkultur setzt dem die Idee des Wohnens als gemeinschaftliche Praxis entgegen – als fortlaufenden Aushandlungsprozess zwischen Ökonomie, Ökologie und Fürsorge. Projekte wie die Spreefeld-Genossenschaft in Berlin oder die Kalkbreite in Zürich zeigen, wie gemeinschaftlich genutzte Räume, solidarische Finanzierungsmodelle und ökologische Bauweisen neue Formen des Zusammenlebens schaffen. Sie verdeutlichen, dass die Gestaltung von Wohnraum immer auch die Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen ist – Ausdruck eines Verständnisses von Solidarität und sozialer Nachhaltigkeit.

 

Eine neue Kultur des Wohnens

Das Hinterfragen etablierter Wohnnormen und die Entwicklung alternativer Wohnkulturen sind Teil eines transformativen Prozesses, der neben der Umgestaltung materieller und ökonomischer Verhältnisse auch einen kulturellen Wandel impliziert. Wohnkultur ist ein Gradmesser gesellschaftlicher Gerechtigkeit – sie zeigt, wie wir mit Alter, Herkunft, Abhängigkeit, Vielfalt und Solidarität umgehen. Eine zukunftsfähige Kultur des Wohnens darf daher nicht bei Fragen des Stils stehen bleiben. Sie ist ein gesellschaftlicher Auftrag, der die Verteilung von Raum, Sorge und Teilhabe neu verhandelt.

Die Herausforderungen des demografischen Wandels, der Klimakrise und der sozialen Polarisierung zeigen: Wohnpolitik ist immer auch Sozial-, Umwelt- und Kulturpolitik. Eine neue Kultur des Wohnens fragt, wie sich Nachhaltigkeit, Teilhabe und Fürsorge räumlich, sozial und ästhetisch verbinden lassen. Sie versteht Wohnräume als dynamische Infrastrukturen des Zusammenlebens – als Labor sozial-ökologischer Transformation. Wohnen bedeutet damit nicht nur, ein Dach über dem Kopf zu haben, sondern Beziehungen zu gestalten: zu anderen, zur Umwelt und zu sich selbst. Vielleicht liegt genau hierin die neue Kultur des Wohnens – in der bewussten Aushandlung von Freiheit und Verantwortung, von Rückzug und Gemeinschaft, von Individualität und Fürsorge. Sie macht deutlich, dass die Frage, wie wir wohnen, untrennbar mit der Frage verbunden ist, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2025.