Wenn man fragt: Wo wohnst du? Dann wird man am ehesten die Antwort hören, dass die/der Befragte in dieser Stadt oder jenem Dorf, auf dem Land, am Meer oder in den Bergen wohnt. Das wäre so ähnlich, wie wenn man sagen würde: Ich lebe in … Das Wort Wohnen beinhaltet meist einen dauerhaften Aufenthalt in einer Umgebung, die auch als erweiterte Wohnung verstanden werden könnte, eine Stadt etwa, eine Region, eine Landschaft etc. Aber eigentlich wohnt man ja nicht auf den Bergen, im Wald oder am Meer, sondern in einer Wohnung. Wir haben zwar meist die Vorstellung, dass eine Wohnung ein architektonisches Gebäude oder ein Raum in einem solchen ist, aber eine Wohnung kann auch ein Zelt für einen Nomaden, ein durch Decken abgetrennter Raum in einer Flüchtlingsunterkunft, ein Schiff, ein Fahrzeug oder ein Hotel für einen Reisenden/Fahrenden oder der Raum unter einer Brücke für einen sich mit Kleidung oder Schlafsack schützenden Obdachlosen oder Flüchtling sein.
In aller Regel versteht man unter einer Wohnung mit dem Beginn der Sesshaftigkeit aber einen örtlich fixierten, umbauten oder mit irgendwelchen Materialien umschlossenen Raum, der das Innen vom Außen trennt. Wohnen kann man, wie oben beschrieben, fast überall, die Abgrenzung kann auch nahezu symbolisch sein. Die Bedeutung des nicht der Allgemeinheit zugänglichen Innenraums wurde im Grundgesetz, Artikel 13 mit dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bestärkt. Im privaten Raum wird Schutz vor ungebetenen Gästen erwartet, er soll auch nicht ohne Zustimmung des Wohnenden abgehört oder visuell überwacht werden. Nicht vergessen sollte man, dass es in vielen Gesellschaften auch einen Zwang zum Wohnen gibt, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, die durch Landstreicher, Obdachlose, Vagabunden oder Bettler bedroht wird. Im ausgehenden Mittelalter wurden Arbeitshäuser als eine Art Gefängnis und Erziehungsmaßnahme eingerichtet, um die Straßen zu säubern.
Man sieht schon, welch’ vielfältige, hier nur angedeutete Bedeutungen die Begriffe Wohnen und Wohnung haben. Übergreifend lässt sich vielleicht definieren, dass Wohnen der Aufenthalt an einem Ort ist, der einen wie auch immer prekär vom Außen getrennten Innenraum bildet und die Möglichkeit bietet, sich zurückziehen und vor allem auch in vermeintlicher Sicherheit schlafen zu können, also aus der Welt ungestört über Stunden heraustreten zu können. Man kann annehmen, dass die Möglichkeit eines ungestörten Schlafs einen wichtigen Beitrag zur kognitiven Entwicklung beigetragen hat. Gegenüber Artverwandten erhöhten sich REM-Phasen, während gleichzeitig die Schlaf- oder Schlummerzeit kürzer wurde. Ich will versuchen, ausgehend von dieser Grundlage eine kurze Linie vom Anfang des Wohnens zur digitalen Jetztzeit zu ziehen, in der sich ein Sprung in eine andere Art des Wohnens und damit auch des Daseins vollzieht.
Natürlich sind die Anfänge des Wohnens in der Menschheitsgeschichte unbekannt. Die ersten gebauten Unterkünfte waren aus Materialien, deren Verwitterung keine Spuren hinterlassen. Man kann annehmen, dass die Vorfahren der modernen Menschen in Horden gelebt und ähnlich wie ihre Verwandten zunächst in Bäumen Schlafplätze aus Zweigen und Blättern gebaut und schließlich neben der Benutzung von Höhlen auf dem Boden etwas festere Behausungen erfunden haben, die mit Ästen, Knochen, Gras oder Fellen als Dach und Wand vor Sonne, Wind, Regen und vor Insekten schützten.
Ohne in evolutionstheoretische oder anthropologische Annahmen einzusteigen: Der Einzug in Behausungen ist ein Schritt in die Erfahrung eines persönlichen und personalisierten Heims in der Welt und eine Rückzugsmöglichkeit aus dem Kollektiv. Man muss sich vorstellen, dass dies ein Schritt in einen neuen Kontinent der Lebenswelt ist, der Löcher in das soziale Gewebe schneidet. Der Austritt aus der Öffentlichkeit der Gruppe in wie immer auch primitive private Räume schafft Freiheiten, aus der kollektiven Überwachung und dem dadurch herrschenden Konformitätsdruck auszuscheren. Im Geheimen der Wohnungen konnten abweichende Verhaltens- und Denkweisen ohne Sanktionen ausgeprägt und sexuelle Bindungen anders als unter Beobachtung stehend ausgelebt und gestärkt werden. Die Wohnung war, wie ich vermute, daher ein ganz entscheidender Motor der Individualisierung, der den Konformitätsdruck der Horde, Sippe oder wie man die lokalen Gemeinschaften nennen will, nach und nach gelockert hat. Das ermöglichte letztlich die schnellere Entwicklung innovativen, auch destruktiven Verhaltens, ein Zerfallen der Bindung an die lokale Gemeinschaft und die Integration in größere Gruppen, in Gesellschaften, während auf der anderen Seite der Konformitätsdruck durch die im privaten Raum eingeschlossene Familie zunahm. Eine zwiespältige Entwicklung, die auch erhellt, warum in größeren Gruppen, in denen die Individualisierung zur Kohärenz oder kollektiven Disziplin reduziert und die Kontrolle verstärkt wird, wie beim Militär, im Internat, in frühen Klöstern, in Arbeits- und Konzentrationslagern oder in Armen- und Zuchthäusern, in Gemeinschaftsunterkünften gehaust wird.
Wohnungen wurden im Laufe der Geschichte mit immer massiveren Materialien gebaut, die auch in größeren Gruppen wie in Städten einen Rückzug aus der größeren Gemeinschaft in die Privatheit oder Abgetrenntheit der Familie garantierten. Man könnte sagen, Wohnungen sind die dunklen Löcher der größeren Gemeinschaft, in denen deren Mitglieder aus der sozialen Kontrolle verschwinden und wieder auftauchen. Das in diesen Heimen geführte Leben, von Gesprächen und Interaktionsformen über Eigenheiten der Kleidung, der Ernährung oder der Beschäftigung bis zum Sex, war mehr oder weniger geheim und für die Gemeinschaft auch un-heim-lich, weil darin mit der Individualisierung neben kreativen Impulsen auch Subversion und abweichendes Verhalten ausgebrütet werden konnten, das sich dann in der Öffentlichkeit auswirken und entladen konnte. Allerdings wohnten die Reichen und Mächtigen nicht allein. Sie waren und sind umgeben und unter Beobachtung von Sklaven, Leibeigenen, Dienern oder Gesinde, aber sie selbst standen und stehen aufgrund der Hierarchie dadurch nicht unter dem wechselseitigen Konformitätsdruck der normalen Gemeinschaftsmitglieder, auch wenn sie als Angehörige der Elite jeweils kulturspezifische Rituale erfüllen müssen.
Mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts die Wohnung als Gehäuse oder Höhle der von der Öffentlichkeit abgeschlossenen, schrumpfenden (Klein)Familie, aus der auch Diener verschwanden und ein – in proletarischen Schichten weiterhin unbekanntes – strenges, auch moralisch gestütztes Privatleben sich ausbreitete. Die Arbeiten mussten von den zur Hausfrau mutierten Frauen erledigt werden. Aus der Isolation des Wohnens entwickelte sich eine neue Dynamik. Die Diener wurden nach und nach durch Geräte ersetzt, die in den Haushalt einzogen, die Häuser wurden an die Kanalisation und später an das Stromnetz angeschlossen, so dass das Innere der Wohnungen dem Dunkel und den flackernden Flammen entrissen wurde. Im Zuge der nach den Seuchen aufkommenden Hygienisierung der Lebensverhältnisse werden Körper und Wohnungen gesäubert und ausgemistet, Pferde und andere Nutztiere, ersetzt durch öffentliche Verkehrsmittel, Lastwagen und private Autos, verschwanden aus den Städten. Autos mit ihren abgeschlossenen Innenräumen erweiterten durch Mobilität die Privaträume des Wohnens in die Öffentlichkeit. Glatte Wände und große Fenster, der ornament- und nischenfreie Kubus setzten sich durch. Während die Menschen weiter auf Distanz gingen und die Familienbande sich lockerten, wurden die Wohnungen zunehmend als Knotenpunkte an regionale und transregionale Infrastrukturnetze angeschlossen. Dazu kamen schließlich Telefon- und Radioverbindungen, die Löcher in die Gehäuse schlugen und deren Bewohner aus der Privatheit herausrissen, sie in eine Echtzeit-Öffentlichkeit zogen, die mit Fernsehen und schließlich Internet die regionalen Beschränkungen überschreitet und global ist.
Die Wohnungen sind damit direkt mit der Welt verbunden. Ihre Bewohner lösen sich aus den Fesseln der lokalen Nähe- und Zwangsgemeinschaften, weswegen als nostalgische Gegenbewegung der Weg zurück in die bürgerliche Welt mit ihren Traditionen und ihrem Nationalismus tritt, während andererseits das kynische Leben in der Öffentlichkeit (Big Brother, auch paradoxerweise Reality genannt) eingeübt wird oder wie im digitalen Nomadentum Wohnen jede Beständigkeit verliert und die Menschen zu Passagieren mit leichtem Gepäck werden. In der Wohnung ist der Bewohner auch Teil der globalen virtuellen Metropole, die sich über sie als erweiterte Realität wölbt. Zwar ist er der Kontrolle durch die Nahumgebung und das lokale Kollektiv weiter entzogen, aber er hat die Wohnung als Rückzugsort der Individualisierung verloren und ist permanent, gleich ob draußen oder drinnen, Teil der globalen Öffentlichkeit und damit neuen Kontrollen und Disziplinierungen etwa durch soziale Netzwerke, Smart-Home-Techniken und ständiger Erreichbarkeit und Verortung unterworfen. Wohnen wird damit nicht mehr ein Motor der »heimlichen« Individualisierung, wie das menschheitsgeschichtlich bis fast vor Kurzem der Fall war, sondern als ein digitales Panopticon wieder stärker der sozialen Kontrolle oder Normierung unterworfen, auch wenn diese nun nicht mehr lokal, sondern letztendlich global geschieht.
Dazu tritt eine weitere Entwicklung, die das Wohnen noch einmal gründlich und mit unabsehbaren Folgen verändert, weil mit der Digitalisierung der Wohnung diese zu einem autonomen, von der Künstlichen Intelligenz gesteuerten System wird, in dem die Bewohner nur noch als »human in the loop« erscheinen. Smart homes werden in Zukunft von personalisierten KI-Agenten gesteuert werden, mit denen die Bewohner wie mit einem anderen Menschen sprechen und interagieren, wie wir das bereits mit Alexa, Siri, Copilot, Gemini und anderen intelligenten Chatbots einüben. Eine Wohnung ist dann nicht mehr ein durch totes Material geschützter Innenraum, sondern eine virtuelle Person, die mit allen digitalen Elementen vernetzt ist, gewissermaßen der lebendige Geist der intelligenten Wohnung. Wie werden wir uns verändern, wenn wir mit unseren Wohnungen nicht nur mitten in der Öffentlichkeit der globalen Metropole stehen, sondern auch in einer Wohngemeinschaft mit einem »Diener« leben, der jede Privatheit endgültig zunichtemacht? Schon jetzt halten viele es kaum mehr aus, allein zu sein, und entfliehen dem nach wenigen Sekunden durch den Blick auf ihre Smartphones, die sie Tag und Nacht bei sich haben. Werden die Menschen sich dem verweigern können und wollen, um wieder allein und unbeobachtet, auch einsam aus der Öffentlichkeit zu verschwinden?