Horst Neidhard, Chef des Modellbauherstellers Faller, im Gespräch mit Ludwig Greven über die Faszination, Häuser und Landschaften in Miniatur nachzubilden und darüber, wie sie die gesellschaftlichen Veränderungen widerspiegeln. Die Gebr. Faller GmbH wurde 1946 von den Brüdern Edwin und Hermann Faller gegründet und ist Weltmarktführer für Modelleisenbahnzubehör, u. a. die Fallerhäuser.
Ludwig Greven: Haben Sie als Kind mit Fallerhäuschen gespielt?
Horst Neidhard: Mein älterer Bruder hatte eine Modelleisenbahnanlage. Wir Jüngeren durften auch mal Häuschen basteln und die Landschaft mitgestalten. Ich bin aber nicht so der Basteltyp.
Wer kauft und baut die Häus-chen und gestaltet damit oft ganze Miniaturlandschaften?
Es sind überwiegend Erwachsene, meist zwischen Ende 30 und 60, hauptsächlich Männer. Sehr viele mit Hochschulabschluss, Meister, Facharbeiter. Der größte Teil gibt an, dass sie etwas gestalten und kreativ Ideen verwirklichen wollen. Viele sind technikbegeistert. Ein kleinerer Teil sind Sammler oder sie haben schon als Kinder mit Eisenbahnen gespielt und sind dabei mit Faller in Berührung gekommen. Sie leben nostalgische Gefühle aus.
Die Bausätze spiegeln verschiedenste Baustile, von mittelalterlichen Fachwerkhäusern, Burgen bis zu modernen Gebäuden. Bilden sie eine Geschichte des Wohnens und der Architektur ab?
Seit der Gründung von Faller 1946 gehört es zum Programm, vergangene Stile wiederzugeben, aber auch bewusst neue Stilrichtungen in den Fokus zu nehmen. Ein großes Thema ist die Industriegeschichte in Verbindung mit der Eisenbahn. Aber genauso romantisch eingeordnete ländliche oder städtische Gebäude. Flachdachbungalows aus den 1960er Jahren waren mal sehr gefragt. Das hat etwas mit der Erlebniswelt der Kunden, teils in der Kindheit, zu tun. Aber sonst gibt es keine Schwerpunkte. Momentan geht es eher in die aktuelle Zeit.
Sind die kleinen Gebäude jeweils echten nachgebildet oder einem bestimmten Baustil?
Es gibt Modelle, die sehr nahe am Original sind. Andere bilden mehr einen Baustil bzw. einen Typ von in der Realität zu findenden Gebäuden ab, vom Fachwerkhaus bis zum Plattenbau, in den unterschiedlichsten historischen Zuständen. Dazu Streetart, Graffiti, nachträglich hinzugekommene Schaufenster aus den 1950ern, Balkonanbauten wie sie in den 1990ern aufgekommen sind. Das alles ist Ausdruck einer Baukultur, die wir aufgreifen. Manche Kunden stellen die Landschaften und Gebäude in einer bestimmten zeitgeschichtlichen, vom jeweiligen Baustil geprägten Epoche dar, andere so, wie es heute ist. Auch wer etwa eine Bauhaussiedlung oder eine typische Arbeitersiedlung der 1920er Jahre als Inspirationsquelle sucht, wird bei uns fündig, wird aber einen erheblichen Anteil an eigener kreativer Leistung, handwerklichem Geschick und Darstellungskraft einbringen, um sein gewünschtes Ergebnis zu erzielen. Das macht es so spannend.
Sind Modelleisenbahnen und Fallerhäuschen noch genauso gefragt wie nach dem Krieg?
Wir verzeichnen seit 2006 ein kontinuierliches Wachstum. Heute sind es aber vor allem Erwachsene, nicht mehr Kinder. Einen besonderen Boom gab es in den Coronajahren. Um den Nachwuchs zu begeistern, veranstalten wir neben vielen Modellbahnclubs Bastelevents und beteiligen uns an einem Projekt »Modellbahnen und Schule« über den den Deutschen Verband der Spielwarenindustrie. Da können eine ganze Reihe von Fähigkeiten vermittelt werden: Planung, Handwerkliches, Technik, Kreativität, auch Ausdauer und Geduld.
Sie bieten sowohl städtisches Flair, die geschäftige Wirtschaftswelt als auch ländliche Idylle an, wie auf Ihrer Website steht. Spiegelt das die unterschiedlichen Lebensstile und Vorlieben in unserer heute sehr diversen Gesellschaft?
Romantik und ländliche Themen funktionieren durchgängig gut. Modellbau ist aber letztlich so vielfältig wie die Umgebung, in der unsere Kunden leben bzw. aufgewachsen sind. Daher spiegeln sich auch industrielle, technologische und gesellschaftliche Entwicklungen mit einer Vielfalt der Themen und Regionen. Unsere Community zeichnet aus, dass sie sehr entspannt miteinander umgeht. Der Wunsch, gemeinsam etwas zu erschaffen oder sich die Ergebnisse zu zeigen, hat einen wunderbaren Trend bestärkt, nämlich Fotos und Videos von hoher Qualität ins Netz zu stellen und in Foren zu diskutieren.
Die große Welt im Kleinen: Steht das für den Rückzug in eine Wunderwelt? Oder ist es eine Form, sich die reale Welt mit Händen greifbar zu machen?
Ich sehe eher eine Art Kontemplation. Indem die Modellbauer sich mit ihrem individuellen Projekt der Welt im kleinen Maßstab intensiv auseinandersetzen, tauchen sie aktiv in eine Gedankenwelt ab, genauso, wie wenn man ein gutes Buch liest. Es sind nach unseren Marktuntersuchungen Menschen, die mitten im Leben stehen. Wenn ich mir unsere Clubs anschaue, sind dort Personen aktiv, welche sich oft auch in anderen Bereichen engagieren, im Sportverein oder im Ehrenamt wie z. B. der freiwilligen Feuerwehr. Die Motive sind Ausleben von Kreativität, Beschäftigung mit technischen Themen sowie der Wunsch, etwas Haptisches zu erschaffen. Das ein oder andere Werk dazu mit einer Prise Humor und Originalität gewürzt.