Olaf Zimmermann: Ich habe den zweiten Jahrgang von Kosmos, dem berühmten »Handweiser für Naturfreunde« aus dem Jahr 1905, mitgebracht. Hier ist die erste autorisierte Veröffentlichung von Jean-Henri Fabres »Souvenirs Entomologiques« auf Deutsch erschienen. Und ein bisschen mehr als 100 Jahre später haben Sie sich aufgemacht, diese Erinnerungen eines Insektenforschers neu zu edieren und zu veröffentlichen. Warum, um Himmels willen, haben Sie das getan?

Andreas Rötzer: 1905 gab es die erste deutsche Übersetzung. Und 1995, also 90 Jahre später, bin ich über Fabre tatsächlich gestolpert, und zwar in dem Antiquariat, in dem ich gearbeitet habe. Nicht in dieser Kosmos-Ausgabe, sondern in einer späteren Auswahlausgabe bei Artemis: »Das offenbare Geheimnis«. So wurde ich 1995 als Student bereits ein Fabre-Fan und -Leser. Und ich wusste, dass es etwa 3.000 bis 4.000 Seiten davon gibt. Als ich dann 2003 den Verlag Matthes &Seitz in Berlin übernehmen durfte, hatte ich mit sehr vielen Autoren und Übersetzern zu tun. Und einer dieser Autoren brachte mich in Verbindung mit einem ungewöhnlichen Pastor in Dinkelsbühl, der tatsächlich Jean-Henri Fabre komplett neu übersetzt hatte. Und zwar, weil er sich als begeisterter Hobby-Entomologe und guter Lateiner immer geärgert hat, dass Fabre auf Deutsch nicht gut zu lesen ist, und er las eben kein Französisch. Er lernte an Fabre dann nach seiner Pensionierung Französisch. Diese Übersetzung war praktisch sein Meisterstück und sie kursierte dann in Ernst-Jünger-Kreisen. Ernst Jünger war ja auch ein großer Entomologe.

 

Käfer waren sein Steckenpferd.

Käfer. Genau. Und natürlich war er auch Fabre-Leser. Über diesen Kreis kam dann mein Kontakt zu Friedrich Koch in Dinkelsbühl zustande, so hieß der Übersetzer und Pastor, der heute noch lebt. So kam ich zu Fabre. Und weil man natürlich als kleiner Verlag die Übersetzung dieser 3.000 bis 4.000 Seiten nicht auf einmal finanzieren kann, war das ein Geschenk des Himmels. Die Übersetzung war bereits gemacht, die Bezahlung wurde abgestottert. Dann begann die schwierige Aufgabe des Lektorats. Dafür konnten wir Heide Lipecky gewinnen. Sie ist die große Lektorin von »Sinn und Form« gewesen, DDR-Schule, unglaublich korrekt, humorvoll und eine tolle Sprachkünstlerin. Sie hat dann im Schweiße ihres Angesichts diese ganzen Ausgaben lektoriert.

 

Wenn ich jetzt sehe, dass Sie zehn Bände herausgebracht haben, eine wahnsinnseditorische Leistung, stellt sich mir die Frage: Wie viele Menschen kaufen ein solches zehnbändiges Werk eines Entomologen aus Frankreich?

Der erste Band schlug ein wie eine kleine Bombe. Das war wunderbar, wir waren damals noch ganz klein, und er verkaufte sich fast 10.000 Mal. Man entdeckte die Natur in der Literatur komplett neu. Das war Mitte der Nullerjahre. Die Edition war sehr einflussreich in Kultur, Kunst und Literaturkreisen. Diejenigen, die dranblieben, waren natürlich deutlich weniger. Von dem zehnten Band haben wir dann vielleicht 2.000 Exemplare verkauft. Aber immerhin.

 

Ich bin ein absoluter Fan. Ich finde diese Edition ganz großartig, weil sie zeigt, dass man Naturereignisse besonders eindrucksvoll literarisch vermitteln kann. Nun ist Jean-Henri Fabre einer, der, wie er gesagt hat, das Leben erforschen wollte und nicht so ein großes Interesse hatte an dem Aufspießen und Benennen von Insekten.

Genau, das Aufspießen bedeutet ja praktisch, dass man die Spezies benennt und dingfest macht. Was Fabre aber macht: Er schaut sich das Individuum an. Und jetzt, über 100 Jahre später, passiert eben dies: Man entdeckt auch im Tierreich das Individuum. Das ist etwas ganz Großartiges. Deswegen ist sein Zugang auch so wichtig. Soziologie kommt ja nie ohne das Individuum aus. Sie kann nicht auf Spezien-Ebenen arbeiten, sondern immer nur auf einer Individualebene. Deswegen ist Fabre so wahnsinnig interessant und immer noch aktuell. Ich wundere mich gerade selbst, wie viele Funken man aus Fabre schlagen kann, auch über 100 Jahre später.

 

Ab 2013 haben Sie mit der Reihe »Naturkunden« noch etwas ganz Neues gewagt. Eine Buchreihe, wunderbar verarbeitet, jede Ausgabe zu einzelnen Tier- oder Pflanzengruppen. Wespen, Tannen, Ratten… Sie haben die wunderbare Schriftstellerin Judith Schalansky als Herausgeberin gefunden. Ihre Naturkunden sind stilbildend für eine große Anzahl von Veröffentlichungen vieler Verlage geworden. Aber Sie sind die ersten gewesen und haben einen Qualitätsmaßstab gesetzt, den, ich darf das frech sagen, nicht alle Ihre Mitbewerber auch erfüllen. Was ich sehr spannend finde: Am Schluss jedes dieser Naturkunden-Bücher gibt es immer, wenn man so will, Benennungen. Es gibt immer eine Reihe von Abbildungen und Beschreibungen der Pflanzen- oder Tierarten, die in dem Buch beschrieben wurden, hervorragend gezeichnet. Ist das die Erweiterung von dem, was Sie mit Fabre begonnen und dann in den Naturkunden weitergeführt haben?

Ja, eindeutig eine Erweiterung. Fabre war im deutschen Kulturbetrieb ein Auslöser für ganz vieles. Es war ein Trendauslöser. Und als Verleger muss ich natürlich immer schauen: Was interessiert mich, welche Themen setzen wir? Und welche Themen sind marktfähig? Fabre wurde, ohne dass es geplant war, der Markttest. Das hat gut funktioniert, und zur selben Zeit haben wir zwei, drei andere Bücher zum Thema Natur, Bewegung, Geografie gemacht. Ich glaube, da brach sich etwas Unbewusstes Bahn, was sich dann so bei uns im Verlagsprogramm ansammelte. Beim Programm denke ich immer in Reihen, wahrscheinlich, weil ich von meiner Verlagsherkunft her sehr französisch geprägt bin, und so dachte ich mir, man muss eine Reihe draus machen, um das zu pushen und wirklich nach vorne zu bringen. Mir fehlte aber die zündende Idee. Davon erzählte ich damals Judith Schalansky. Und die hatte sofort die Idee, diese Themen mit Buchkunst zu kombinieren.

 

Was dann entstand, war nicht billig zusammengeschustert, sondern ist genau das Gegenteil davon. Ein hochwertiger, wunderbarer Einband. Es hört sich vielleicht verrückt an, aber ich meine es wirklich ganz ehrlich: Die Bücher sind sichtbar mit Liebe gemacht.

Das ist wirklich mit Liebe gemacht. Damals hatte der deutsche Verlagsbuchhandel eine Riesenangst vor dem E-Book, das gerade aufkam. Alle dachten, das Buch stirbt aus. Plötzlich kommt ein Verlag und macht noch ein totales Feuerwerk an Buchkunst. Wir haben uns angeschaut, wie man im 19. Jahrhundert Bücher gemacht hat: vom Farbschnitt, der den Staub beim Eindringen in den Buchblock hindert, über die farbigen Vorsatzpapiere, die früher ja noch dazu marmoriert waren, jetzt farbig sind, und die Frontispiz-Abbildungen, bis zur Fadenheftung und zur Prägung. Und wichtig war die dünne Pappe, da wir flexible Bücher mögen. Das alles wollten wir in einem maximal möglichen Sinne realisieren. Damals ging das noch, weil die Produktionspreise relativ in Ordnung waren. Wir haben einen Förderer gefunden, Jan Szlovak. Ohne ihn hätten wir als kleiner Verlag das gar nicht beginnen können.

 

Wie hoch ist die Auflage der Bücher, würden Sie das verraten?

Wir hatten jahrelang bei den Porträts eine Auflage von 8.000 bis 10.000 Exemplaren. Einmal auch 15.000. Aber die Auflagen gehen seit Corona etwas herunter. Die Erstauflagen liegen jetzt bei etwa 5.000. Die Maximalauflage hat mal die 50.000 oder 60.000 erreicht. die Minimalauflage vielleicht 3.000 verkaufte Auflage, abhängig vom Thema, um das es geht.

 

Diesen Boom auf naturkundliche Bücher haben wir ja vor 100 Jahren schon einmal gehabt. Es gab berühmte Autoren wie Wilhelm Bölsche. Der Boom hat bis zum Zweiten Weltkrieg angehalten. Dann war er zu Ende. Sie haben das Interesse wiederbelebt. Wie würden Sie das einordnen?

Meine These ist, dass die Beschäftigung mit der Natur nach dem Krieg zunächst nicht wichtig war. Erst einmal musste man wieder aufbauen. Die Nationalsozialisten waren sehr naturaffin. Wahrscheinlich wollten sich gerade die Progressiven davon abwenden. Als dann Anfang der 1980er Jahre die Natur wiederentdeckt wurde, wurde sie nur als zerstörte Natur wiederentdeckt. Doch damals begann ein politischer Blick auf Natur, der ganz wichtig war. Es hat sich in den 1980er Jahren wahnsinnig viel geändert. Dann kam die Wende. Da war man wieder mit sich beschäftigt. Und dann war, glaube ich, der Platz frei für eine ästhetische Betrachtung der Natur. Das begann dann eben Mitte der Nullerjahre, also vor 20 Jahren. Und jetzt haben wir das relativ gut etabliert in der deutschen Literaturgeschichte, auch durch den Deutschen Preis für Nature Writing, den wir vergeben.

 

Jetzt legen Sie noch eine Schippe drauf, und geben die Tagebücher von Henry David Thoreau heraus, dessen Buch »Walden« viele Menschen in den Bann gezogen hat.

Genau, wir verlegen eine von Rainer G. Schmidt übersetzte zwölfbändige Edition des Tagebuchs von Thoreau, das meiner Meinung nach sein geheimes Hauptwerk ist – ein gewaltiger Steinbruch an Ideen und Beobachtungen, der in seiner ganzen Bedeutung noch gar nicht richtig wahrgenommen wurde.

 

Wie schätzen Sie den Markt für den Bereich der literarischen Naturbücher ein? Wird der Hype bleiben? Oder sagen Sie, wir sind schon auf einem ein bisschen abschmelzenden Bereich?

Sagen wir so, der Hype, glaube ich, ist am Abklingen. Ich glaube, der war vor fünf, sechs, sieben Jahren vielleicht auf dem Höhepunkt. Damals erweiterte sich der Markt für das Nature Writing erheblich. Der Kuchen wurde größer und das Stück aus dem Kuchen für uns kleiner. Weil alle plötzlich Natur gemacht haben. Jetzt schrumpft dieser Kuchen wieder, weil andere Probleme im Vordergrund stehen. Tatsächlich rückt Natur, glaube ich, ein bisschen in den Hintergrund. Es gibt auch eine gewisse Sättigung. Wir wollen aber trotzdem unbedingt weitermachen. Weil es trotz schrumpfenden Markts und kleiner werdender Auflagen auch eine politische Aufgabe für uns ist. Wir sind als Verlag ein Wirtschaftsunternehmen, aber gleichzeitig sind wir auch eine Kulturinstitution. Insofern machen wir da auf alle Fälle weiter. Und es gibt so viel zu entdecken im Thema Natur, dass das noch 100 Jahre weiter gehen kann.

 

Ich wünsche Ihnen alles Gute für den weiteren Weg. Vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2024.