Läuft man durch eine Großstadt, bemerkt man unweigerlich, wie vielfältig das Erscheinungsbild der Menschen ist: dick oder dünn, groß oder klein, tätowiert und gepierct oder nicht, behaart oder unbehaart … Einige haben auch eine blasse weiße Hautfarbe, andere hingegen sind dunkel oder hellbraun. Auch die Haarfarbe, der Haartyp, die Lippen, Nase, Ohren und Augen oder die Gesichts- und Schädelform variieren. Zum Teil haben wir uns an diese Unterschiede gewöhnt und benutzen sie, um bekannte, verwandte Menschen wieder zu erkennen. Unterschiedlichkeit ist keine Illusion! Damit stellen die Menschen körperlich eine der variantenreichsten Spezies auf der Erde dar. Dabei ist es scheinbar leicht, zwischen Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde Unterschiede am äußeren Erscheinungsbild (Haarfarbe, Hautpigmentierung usw.) zu erkennen, obwohl die zugrundeliegenden genetischen Variationen selbst viel weniger ausgeprägt sind. Die Wahrnehmung von morphologisch-phänotypischen (äußeren) Unterschieden kann uns aber eben irrtümlicherweise dazu verleiten, von diesen auf die Herkunft und damit einhergehende genetische (innere) Unterschiede zu schließen. An dieser Stelle setzt nun die im Jahr 2019 verabschiedete Jenaer Erklärung (JE) an.
Die JE ist eine wissenschaftliche Stellungnahme, die das »Konzept der Rasse« sowie den Rassismus in den Wissenschaften und der Öffentlichkeit kritisch und aktuell hinterfragt. Sie wurde am 10. September 2019 anlässlich der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Jena vom Institut für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität in einer öffentlichen Abendveranstaltung zum Thema »Jena, Haeckel und die Frage nach den Menschenrassen: wie Rassismus Rassen macht« erstmals vorgestellt. Der Haupttenor der JE ist, Rassismus macht Rassen, nicht Rassen führen zu Rassismus. Die Idee der Existenz von Menschenrassen war und ist von Anfang an mit einer Bewertung dieser vermeintlichen Rassen verknüpft, ja, die Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit von Menschengruppen ging der vermeintlich wissenschaftlichen Beschäftigung voraus. Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Haarstruktur etc. – hat zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. Die »Botschaften« der JE sind:
- Aus genetischer Sicht sind wir alle Afrikaner.
- Es gibt keine genetischen Grenzen, nur Gradienten.
- Die genetischen Unterschiede innerhalb einer Population sind viel größer als zwischen den Populationen.
- Die genetischen Unterschiede, die den Phänotyp beeinflussen, sind meist Teil der Anpassung an die Umwelt.
- Die helle Haut der Europäer ist erst wenige tausend Jahre alt und aus Anatolien und Zentralasien eingewandert, als Anpassung an den Ackerbau.
Zusammenfassung: Es gibt keine genetische Basis für menschliche Rassen.
Die Genforschung (Archäogenetik) hat nun mit Analysen an altem Skelettmaterial gezeigt, dass zwischen menschlichen »Gruppen« im Laufe der Zeit ein immerwährender Genaustausch stattgefunden hat. So zeigen die heutigen Einwohner Westeurasiens z. B. nur halb so viele genetische Unterschiede wie die Menschen, die dort noch vor 10.000 Jahren lebten. Gruppen, Völker oder Rassen sind beim Menschen somit nicht existent. Es handelt sich hier um Gradienten, die beweisen, dass es keine scharfen Grenzen/Abgrenzungen innerhalb der menschlichen Entwicklung zwischen benachbarten Weltregionen gibt. Sie existieren nicht, sondern sind nur Konstrukte. Ferner deuten aktuelle Befunde der Genetik, Anthropologie, Ethnologie und Molekularbiologie darauf hin, dass der moderne Mensch erst vor ca. 200.000 Jahren in Afrika entstand, sich vor relativ kurzer Zeit in die bewohnbaren Gebiete der Erde ausbreitete und sich während dieses Prozesses an die unterschiedlichen Umweltbedingungen (Klima etc.) anpassen musste. Als der moderne Mensch (Homo sapiens) vor ca. 50.000 bis 60.000 Jahren Afrika verließ, traf er in Eurasien nach heutigem Erkenntnisstand mindestens drei seiner unmittelbaren Verwandten – Homo floresiensis, den Neandertaler (Homo neanderthalensis) und wohl auch den Denisovaner aus dem russischen Altai-Gebirge (eine nicht formal benannte fossile Homo-Population). Diese Notwendigkeit der Anpassung an die jeweils unterschiedlichen Umweltbedingungen hat aber eben nur in einer kleinen Untergruppe von Genen, die die Empfindlichkeit gegenüber Umweltbedingungen betrifft, z. B. Sonneneinstrahlung, Veränderungen bewirkt.
Rassistisches Denken hat bis heute Fortbestand, und es bleibt in vielen gesellschaftlichen Bereichen das merkwürdige Bedürfnis, das »Konzept der Menschenrassen« zu retten, da phänotypische Unterschiede und genetische Differenzierung doch nun »offensichtlich« seien. Typologisches Denken scheint dem Menschen seit den Zeiten des deutschen Idealismus irgendwie eigen zu sein. Typologie jedoch zeichnet sich durch statische Eigenschaften und das Fehlen von Übergängen aus und ist nicht mit einem dynamischen, evolutionären (darwinistischen) Weltbild vereinbar. Sorgen wir also dafür, dass nie wieder mit scheinbar biologischen Begründungen Menschen diskriminiert, verfolgt werden und erinnern wir uns und andere stets daran, dass es der Rassismus ist, der Rassen geschaffen hat.