Wir befinden uns in einer Biodiversitätskrise, in der weder die bereits verursachten Schäden noch Veränderungsprozesse ausreichend benannt und analysiert wurden, um Risiken angemessen bewerten und nachhaltige Maßnahmen ergreifen zu können.
Die ausreichende Klassifizierung der Artenvielfalt und funktionaler Zusammenhänge in der Natur ist dabei eine der bedeutendsten Aufgaben unserer Zeit. Die Basis hierfür bildet nicht nur die taxonomische Beschreibung der Arten nach den morphologischen und genetischen Merkmalen, sondern auch der von ihnen bestimmten Funktionen, z. B. in Nahrungsnetzen und Interaktionen, unter anderem mit Pflanzen.
Insekten sind die unverzichtbare Schlüsselgruppe für den Erhalt von Biotopen aufgrund des Einflusses ihrer funktionalen Diversität. Deshalb beinhalten sie auch das mit Abstand größte und vielfältigste Indikatorvolumen für Zustandsbewertungen und Prognosen – wenn denn die Arten benannt und ihre Funktionen sowie ihre Gefährdung bekannt wären.
Wir betrachten die aktuell kritische Situation aus dem Blickwinkel der Entomologen, die, basierend auf einer Standardisierung der Nachweismethodik, massive Verluste in Insektenbiomassen und Artendiversität mitten in Schutzgebieten nachgewiesen und hiermit ein weltweites Echo ausgelöst haben. Was seitdem in Daten und Defiziten erkennbar wird, ist ein Zustand, der noch keine Trendwende erkennen lässt, selbst dort nicht, wo dringend Prioritäten und Ziele gesetzt werden müssten.
In der Roten Liste Deutschlands konnte das Aussterberisiko von weit mehr als der Hälfte der Insektenarten bis heute nicht bewertet werden. Versucht man, dieser großen Kenntnislücke mit einer Hochrechnung zu begegnen, dann sind voraussichtlich ca. 1.773 bis 1.937 Insektenarten in Deutschland bereits ausgestorben; ca. 1.856 bis 2.024 zählen zu der Kategorie »vom Aussterben bedroht« (Hallmann et al. 2022).
Zu diesen bedrückenden Zahlen hilft es den als »vom Aussterben bedroht« eingestuften oder noch gar nicht so klassifizierten Insekten nicht, dass sie in der Regel ihre letzten Populationen in Schutzgebieten haben. Hierfür müsste auf deren Bestandssicherung als prioritäres Ziel in planerischen Grundlagen fokussiert werden, und es müsste natürlich bekannt sein, welche bekannten oder noch unbekannten Arten dies denn sind.
Gleiches gilt für die zu oft noch unbekannten Funktionen der Arten. Und auch ein nachhaltig wirksamer Schutz der vom Aussterben bedrohten Biotoptypen bedingt Kenntnisse über die charakteristischen Arten dieser Lebensraumtypen. Wie will man denn nachhaltig und zielgerichtet bestimmte Biotope erhalten, wenn derartig große Mengen der die Biotope als Funktionsträger prägenden Insektenarten nicht berücksichtigt werden?
Aspekte der Erhaltung der gefährdeten bis hin zu den vom Aussterben bedrohten, ebenso wie der biotopprägenden Insekten der artenreichsten Insektenordnungen finden nicht nur in der Schutzgebietsplanung, sondern ebenso in der Forschung keine angemessene Berücksichtigung.
Die wenigen auf die Klärung der Gesamtheit der lokalen Insektenvielfalt ausgerichteten Forschungsvorhaben sind auch heute so selten zu finden wie Insektenarten kurz vor dem regionalen Aussterben. Anstatt in der aktuellen Forschung und dem Artenschutz den Fokus auf die Insektengruppen mit den größten Kenntnisdefiziten zu legen, befasst man sich ganz überwiegend mit den artenärmeren Gruppen, zu denen bereits vieles bekannt ist. Nicht weil dies logisch, realitätsnah oder eine datenbasierte Entscheidung wäre, oder die funktionale Bedeutung ausreichend berücksichtigt würde, sondern weil dies dem »Mainstream« der Naturschutzforschung und -praxis des letzten Jahrhunderts entspricht. Um in Deutschland als Insekt im Naturschutz, in der Planung, dem Monitoring oder der Forschung berücksichtigt zu werden, hat man bessere Chancen, wenn man möglichst dick und groß, besser noch zusätzlich attraktiv bunt ist und vor allem zu einer der artenärmeren Insektengruppen zählt.
Man fühlt sich wie auf einer bereits leckgeschlagenen Biodiversitätsarche, die sich weiteren Klippen nähert, wobei die »Navigatoren« stoisch auf der irrealen Meinung beharren, dass man keine genauere Kartographie von der Küste benötigt.
Natürlich wäre es auch hilfreich, wenn die Instrumente zum Kenntnisgewinn vergleichbare Daten liefern würden. Auch hier hat die Biodiversitätsforschung noch massive Defizite und nicht ausreichend gesetzte Standards. Das, was beim Entomologischen Verein in Krefeld in methodischen Standards und umfänglichen Begleitdaten seit Jahrzehnten realisiert wird, ist nicht der Regelfall, sondern nahezu ein Alleinstellungsmerkmal.
Im Forschungsvergleich ist der Biodiversitätswandel vergleichbar mit dem Klimawandel ohne ausreichend funktionierende Messstationen; an wichtigen Punkten sind diese gar nicht vorhanden.
Also weiter so auf dem ungewissen Kurs in eine zunehmend irreversibel geschädigte Zukunft?
Oder die Einsicht in eine notwendige Kurskorrektur mit ausreichendem Blickwinkel auf die artendiverse Realität der schwindenden Vielfalt und eine ausreichende Klassifizierung und datenbasiert abgeleitete Vermeidung irreversibler Biodiversitätsschäden?