Das Weltwirtschaftsforum stuft den Verlust der biologischen Vielfalt als die drittgrößte Bedrohung der Menschheit in den nächsten zehn Jahren ein. Auch Unternehmen wie Goldman Sachs und Allianz warnen vor gravierenden Folgen: Finanzielle Risiken, Beeinträchtigungen der Nahrungsmittelproduktion und das beschleunigte Artensterben sind nur einige der katastrophalen Auswirkungen.
Dies wirft unweigerlich die Frage auf: Wie gut sind wir auf die Biodiversitätskrise vorbereitet? Die ernüchternde Antwort: Schlecht. Würden Sie in Berlin ein kleines Insekt aufheben und versuchen, es zu identifizieren, würden Sie bald frustriert aufgeben. Obwohl es sich vermutlich um eine beschriebene Art handelt, würde ein Mangel an benutzerfreundlichen Bestimmungshilfen Ihnen den Zugang zum Artnamen und damit zum biologischen Wissen über diese Art verschließen. Sie würden nämlich den Namen brauchen, um Informationen über diese Art zu finden. Tatsächlich gibt es auch in Deutschland gute Bestimmungsmethoden im Wesentlichen nur für »charismatische« Tier- und Pflanzengruppen wie Samenpflanzen, Vögel, Schmetterlinge oder Bienen – also Arten, die tagsüber beobachtet werden können und groß genug sind, um dem menschlichen Auge aufzufallen. Kleinere, aber oft ebenso wichtige Arten werden zu wenig untersucht.
Genügt es vielleicht, nur große, tagsüber aktive Arten zu kennen? Sicherlich nicht, weil in terrestrischen Lebensräumen die Biomasse aller Insekten die der charismatischeren Wirbeltiere um das 20-fache übertrifft und auf jede Wirbeltierart in Deutschland mehr als 50 Insektenarten kommen. Dennoch sind die meisten Arten weltweit noch nicht einmal beschrieben. Die nur zu 10 bis 20 Prozent beschriebenen Arten sind meist groß und auffällig, was zu einer Verzerrung unseres Naturwissens führt. Das wäre vielleicht noch akzeptabel gewesen, als die Erforschung der Biodiversität von weniger existenzieller Bedeutung war, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Angesichts der globalen Biodiversitätskrise ist unverzerrtes Wissen über alle Komponenten der Biodiversität von entscheidender Bedeutung. Schließlich zerstört der Biodiversitätsverlust nicht nur die Umwelt, sondern hat auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen. Es ist Zeit, dass wir die Artenvielfalt unseres Planeten umfassend und ohne Verzerrungen untersuchen.
Das Ausmaß der Verzerrung in unseren Biodiversitätsdaten ist erschreckend und kann mit Hilfe von GBIF (Global Biodiversity Information Facility) quantifiziert werden. Die Datenbank umfasst derzeit fast 2,5 Milliarden Vorkommensdaten, doch fast 2 Milliarden entfallen auf die nur etwa 15.000 Vogelarten, während es für die über 1 Million beschriebenen Insektenarten nur 240 Millionen Datenpunkte gibt. Das sind weniger Daten als für die 11 am besten bekannten Vogelarten (247 Millionen). Der Grund: Künstliche Intelligenz ermöglicht es mittlerweile, viele Vorkommensdaten durch Artbestimmungen zu generieren, die durch die automatische Analyse von Bildern oder Tonaufnahmen gewonnen werden können. Dies funktioniert jedoch nur für Arten, die von bestehenden KI-Modellen erkannt werden können – und das sind nur wenige Vogelarten, die vor allem in Europa oder Nordamerika vorkommen. Dabei leben die meisten Arten in den Tropen.
Wie können wir diese Datenverzerrungen eliminieren? Die Erfolgsgeschichten für gut bekannte Vogelarten liefern das Rezept. Wir müssen Biodiversitätsdaten schneller und effizienter durch die Anwendung von KI generieren. Zum Beispiel können schon heute Roboter eingesetzt werden, die eine große Anzahl von Insekten fotografieren, die dann mithilfe von DNA-Sequenzen den Arten zugeordnet werden können. Sobald es genügend Bilder für eine Art gibt, kann sie in KI-Modelle integriert werden, und die Art kann dann in der Zukunft auch über Bilder bestimmt werden. Dies beschleunigt nicht nur die Bestimmung von häufigen Arten, sondern hilft auch bei der Entdeckung und Beschreibung neuer Arten. Schnellere Methoden werden dringend benötigt, weil es noch mehr als 400 Jahre dauern würde, wenn wir die biologische Vielfalt unseres Planeten nur mit den derzeitig verwendeten Methoden erfassen würden. Glücklicherweise ist es jetzt aber realistisch, weitgehend automatische Methoden für die Artenentdeckung und -beschreibung zu entwickeln. So können wir in der Zukunft Vorkommensdaten für Hunderte von Arten durch die fotografische Erfassung von Aufsammlungen, aber auch durch die Analyse von DNA aus Wasser-, Boden- und Luftproben gewinnen.
Zusammengefasst müssen wir also mehr tun, um unverzerrte Biodiversitätsdaten zu gewinnen. Der taxonomische und geografische Fokus der Forschung muss erweitert werden – weg von dem, was ohne Hilfsmittel sichtbar ist, hin zu dem, was wichtig für die Zukunft unseres Planeten ist.