Benennen und Klassifizieren sind tief in uns Menschen verwurzelt. Bereits als Kinder beginnen wir, den Dingen unserer Umwelt einen Namen zu geben. Wir lernen, mit Hilfe von sprachlichen Bezeichnungen über unsere Erfahrungswelt zu sprechen und sie zu ordnen. Insbesondere die Vielfalt in der lebendigen Natur hat die Menschen seit jeher beschäftigt. Kenntnisse über die ihn umgebende Arten- und Formenvielfalt zu sammeln und die überbordende Fülle an Informationen zu strukturieren, gehört zu den ältesten geistigen Auseinandersetzungen des Menschen mit den Naturphänomenen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich in der aktuellen Zeit, in der der menschengemachte Klimawandel und der Verlust an natürlichen Lebensräumen die Vielfalt der Arten bedroht wie nie zuvor. Dieser Verlust biologischer Vielfalt ist eine der größten, nach Ansicht mancher Wissenschaftler die größte Bedrohung für die Menschheit. Die biologische Vielfalt ist die unersetzliche Grundlage für das Funktionieren der weltweiten Natur und damit für unser Überleben.
Um diese Veränderungen zu verstehen, ist es erforderlich, die Elemente in der Natur zu kennen. Eine der wichtigsten kulturellen Wege, die den Menschen umgebende Vielfalt zu organisieren, zu verstehen und auch zu bewahren, ist ihre Benennung. Erst die Namen der Tier- und Pflanzenarten erlauben verallgemeinernde Aussagen über die Natur. Es sind die wissenschaftlichen Namen, die als gemeinsames und international universelles Etikett als Bindeglied aller verfügbaren Informationen fungieren. Ohne wissenschaftliche Bezeichnung findet keine Art ihren Weg in die Roten Listen. Ohne Namen können die Wissenschaftler weltweit nicht über dieselben biologischen Einheiten forschen und sprechen.
Erst mit dem Benennungsakt betritt die neu entdeckte Art die Bühne der Wissenschaft. War sie auch vorher schon seit Millionen von Jahren auf diesem Planeten, hatte sie auch vielleicht schon vorher die Aufmerksamkeit der lokalen Bevölkerung und interessierter Naturbeobachter auf sich gezogen, oder existierten die Exemplare, die später zu den Belegen einer neuen Art werden sollten, bereits seit langem in den Sammlungen der Museen, erst mit der Benennung wird die Art Gegenstand der Wissenschaft. Der Art selbst kann es gleichgültig sein, ob sie einen wissenschaftlichen Namen trägt oder weiterhin ohne menschliche Bezeichnung existiert. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und einer Art allerdings verändert sich durch die Benennung grundlegend.
Die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Entdeckung, Beschreibung und Benennung der Arten beschäftigt, heißt Taxonomie. Die wissenschaftlich-taxonomische Taufe einer Art ist im Rahmen des westlichen Wissenschaftsverständnisses ein Meilenstein in ihrer Entdeckungsgeschichte. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Verleihung eines wissenschaftlichen Namens mehr als alles andere formaler Ausdruck der Entdeckung einer Art ist.
Namen sind ein sprachliches Element, das in Biologie und Naturkunde so viel Gewicht hat wie in kaum einer anderen Naturwissenschaft. Arten spielen als Produkte der Evolution und als überaus wichtige Verallgemeinerungseinheiten der Biologie eine zentrale Rolle in der Erforschung der Natur. Millionen dieser natürlichen Einheiten sind bereits bekannt und benannt. Auch andere Naturwissenschaftler benennen ihre Forschungsgegenstände in ähnlicher Weise wie die Biologen. Die Biologie zeichnet sich ähnlich wie die Astronomie dadurch aus, dass der größte Teil der in der Natur vorkommenden Gegenstände der biologischen Forschungspraxis noch nicht bekannt ist. Jedes Jahr werden etwa 18.000 Tier- und Pflanzenarten entdeckt, was wiederum bedeutet, dass der »Katalog des Lebens«, das »Wörterbuch der Natur«, jährlich um dieselbe Anzahl an Wörtern erweitert wird, von denen der größte Teil sprachliche Neuschöpfungen sind.
Das »Linnéische Programm«, wie der prominente Biodiversitätsforscher Edward O. Wilson die systematische und auf Vollständigkeit abzielende Inventarisierung der Biosphäre bezeichnete, hat sich inzwischen zu einem globalen Großforschungsprogramm entwickelt. Anders als noch vor wenigen Jahrzehnten lassen schnelle Verkehrsmittel die Wissenschaftler unproblematisch an Orte mit hoher Biodiversität gelangen, um die dortigen Arten zu untersuchen. Neue Technologien ermöglichen eine schnelle und effektive Analyse genetischer und morphologischer Daten. Und dennoch verbindet ein durchlaufendes Thema all diese Bemühungen um eine Erfassung der weltweiten Biodiversität seit dem 18. Jahrhundert: die vollständige Inventur der Natur und die Aufschlüsselung der ihr innewohnenden Ordnung. Wie groß aber ist die Aufgabe, die noch auf die weltweite Wissenschaftlergemeinschaft wartet? Es mag überraschen, aber die Zahl der Arten, die auf der Erde existieren, kann auch nach 250 Jahren Biodiversitätserfassung noch nicht mit wünschenswerter Genauigkeit beziffert werden. Mehr noch, die Wissenschaftler können auch nicht mit einigermaßen vertrauenserweckender Genauigkeit sagen, wie viele schon entdeckt und benannt worden sind. Beide Zahlen aber sind von wissenschaftlicher und politischer Bedeutung.
Mit der exponentiellen Zunahme der Beschreibungsrate im Laufe der letzten zweieinhalb Jahrhunderte wurde es unmöglich, den Überblick über alle Tiergruppen zu bewahren. Spezialistentum verdrängte zunehmend das Universalwissen, und die Spezialisten versuchten, durch Kataloge und Verzeichnisse ihrer bevorzugten Organismengruppe der wachsenden Mannigfaltigkeit Herr zu werden. Heute übernehmen umfangreiche, internetbasierte Datenbankprojekte wie die »Encyclopedia of Life« die Aufgabe einer vollständigen Inventur alles Lebendigen.
Die Zahl der tatsächlich auf der Erde existierenden Arten ist naturgemäß die eigentliche große Unbekannte in der Biodiversitätsentdeckung, und die Wissenschaftler nähern sich ihr mithilfe von Hochrechnungen und Schätzungen an. Es liegt in der Natur der fortschreitenden Artenentdeckung, besonders in den Tropen, dass die Schätzwerte über die Gesamtzahl der Arten immer weiter zunehmen. So umfasste die 10. Auflage des »Systema Naturae«, Carl von Linnés zoologischem Hauptwerk von 1758, weniger als 4.500 Arten. Heute wissen wir, dass Linné den Umfang der weltweiten Artenvielfalt um mehrere Größenordnungen unterschätzte. Es sollte bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dauern, bis die Millionen-Marke überschritten wurde. Eine politisch enorm wirkmächtige Zahl veröffentlichte der US-Entomologe Terry Erwin im Jahr 1982. Er errechnete anhand von Untersuchungen an Insekten auf tropischen Bäumen in Panama die atemberaubende Zahl von 30 Millionen Insektenarten, die es weltweit geben sollte. Selbst bei einem Schätzfehler von einigen Millionen Arten führte diese Zahl den Biodiversitätsforschern und der Öffentlichkeit vor Augen, mit welcher ungeheuren Artenvielfalt wir es zu tun haben. Heute gehen die Spezialisten von einem niedrigeren Wert aus. Meist nimmt man derzeit an, dass weniger als 10 Millionen Arten vielzelliger Tiere auf der Erde zu erwarten sind. Und dabei ist die Vielfalt der mikroskopischen Bakterien und Protisten, die wahrscheinlich noch weitere Hunderttausende von Lebensformen umfasst, noch gar nicht berücksichtigt.
Selbst von den mehrzelligen Tieren sind dabei wahrscheinlich erst 10 bis 15 Prozent entdeckt worden. Entsprechend warten noch Millionen von Tierarten auf ihre Entdeckung, so viele, dass wir bei der heutigen Entdeckungsrate mehrere 100 Jahre benötigen würden, sie alle zu erfassen. Doch bleibt dafür nicht die Zeit. Abgesehen davon, dass wir in einer sich in kurzen Zeiträumen ändernden Welt leben, in der Forschungsprogramme und Zukunftspläne mit Laufzeiten von vielen Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten nicht sinnvoll sind, läuft uns aus einem viel gewichtigeren Grund die Zeit davon. Klimaerwärmung, Lebensraumverlust, Umweltverschmutzung und viele andere Faktoren führen dazu, dass stetig Arten aussterben. Die meisten von ihnen verschwinden unerkannt von der Bühne der Natur, zum Teil so, als hätte es sie nie gegeben. Insekten, Würmer, Quallen sind genauso bedroht wie charismatische Großtiere wie Flussdelfine und Tiger, deren Existenz vielen Menschen am Herzen liegt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass schon in wenigen Jahrzehnten ein erheblicher Teil aller Arten nicht mehr existiert.
Die Erfassung der Artenvielfalt ist also ein steter Wettlauf mit der Zeit. Die Taxonomen, die sich bemühen, die noch unentdeckte Artenvielfalt zu entschlüsseln, tun dies im Wissen, dass parallel unentwegt Arten aussterben, bevor sie überhaupt gefunden und wissenschaftlich dokumentiert wurden. Sie sind, wie es der Autor Douglas Adams ausdrückte, »fast wie jemand, der durch eine brennende Bibliothek eilt und versucht, ein paar der Titel jener Bücher hinzukritzeln, die niemand mehr wird lesen können«. Die höchste Priorität müssen Maßnahmen haben, die den fortschreitenden Artenverlust stoppen. Gleichzeitig tun Taxonomen gut daran, sich mit der Erfassung alles Lebendigen und der sprachlichen Erschließung der der Natur innewohnenden Ordnung zu beeilen.