Wenn wir an Naturerlebnisse denken, stellen wir uns oft Wälder, Berge oder das Meer vor. Doch Natur ist oft näher, als wir glauben – auch in der Stadt begegnen wir ihr täglich. Der Baum am Straßenrand, die Blume im Fensterkasten oder der Vogel, der frühmorgens singt – solche alltäglichen Naturbegegnungen sind Teil unserer städtischen Umgebung. Doch was macht eine Naturerfahrung wirklich aus? Es geht über den bloßen Kontakt mit Pflanzen und Tieren hinaus; sie beruht auf einer bewussten und reflektierten Auseinandersetzung mit der Natur.

Die Benennung von Arten spielt dabei eine wichtige Rolle, da sie unser Verhältnis zu Arten und das Verständnis von Biodiversität prägt. Wenn wir Pflanzen, Tiere oder andere Organismen benennen können, treten wir in eine bewusste Beziehung zu ihnen. So verhilft uns die Kenntnis von Arten dazu, unsere Umgebung differenzierter wahrzunehmen. Wo zuvor nur »ein Baum« stand, erkennen wir plötzlich eine Stileiche oder eine Rotbuche. Durch diese bewusste Wahrnehmung erweitern wir nicht nur unser Wissen über die Natur, sondern entwickeln auch ein tieferes Verständnis für den Schutz und die kulturelle Bedeutung der Arten.

Smartphone-Bestimmungsapps spielen eine immer wichtigere Rolle dabei, Menschen den Zugang zu Artenkenntnissen und Naturerfahrungen zu erleichtern. Die Möglichkeit, jederzeit und überall Arten bestimmen zu können, senkt die Schwelle zur Naturerfahrung erheblich. Wo früher Expertenwissen oder Bestimmungsbücher notwendig waren, kann heute jede und jeder die Namen von Pflanzen und Tieren im städtischen Park oder auf einem Spaziergang in der Natur sofort erfahren. Dadurch wird das Interesse an der Natur geweckt und vertieft, denn mit jeder neuen Entdeckung wächst das Verständnis für die Bedeutung der einzelnen Arten und deren Funktion im Ökosystem.

Die Smartphone-App Naturblick, entwickelt vom Museum für Naturkunde Berlin, verfolgt genau dieses Ziel: Menschen für die Natur in ihrem Alltag zu begeistern. Mit einfachen Funktionen zur Bestimmung von Pflanzen und Tieren durch Laut- und Bilderkennung macht die App Stadtnatur greifbar und fördert das Interesse an einer oft übersehenen Umgebung. Naturblick bietet zudem die Möglichkeit, Beobachtungen mit Citizen-Science-Projekten zu teilen und so zur Forschung über Stadtnatur beizutragen. Neben Beobachtungen von Pflanzen und Tieren gewinnen wir wertvolle Einblicke in die Mensch-Natur-Interaktion in der Stadt: Wo finden Naturkontakte und -erfahrungen statt? Welche Arten und Orte rufen Interesse hervor? Ein zentraler Aspekt in der Entwicklung war für uns die enge Zusammenarbeit mit naturinteressierten Menschen, eine Zusammenarbeit, die auch nach acht Jahren noch nicht abgeschlossen ist. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven ist dabei ein integraler Bestandteil der kontinuierlichen Reflexion und Weiterentwicklung der App und des didaktischen Konzepts.

Der hohe Bedarf an Naturerfahrungen im persönlichen Umfeld zeigte sich besonders während der COVID-19-Pandemie: Die Nutzungszahlen stiegen erheblich. Zudem zeigen Rückmeldungen die Vielfältigkeit der Anwendung der App. Studierende berichten, dass sie Naturblick als Werkzeug im Studium nutzen, um Vogelstimmen schnell zu identifizieren und ihre Kenntnisse auf einfache Weise zu erweitern. Lehrkräfte wiederum integrieren die App in ihren Unterricht, um einen Einstieg in Naturbeobachtungen zu ermöglichen. Eltern nutzen Naturblick oft gemeinsam mit ihren Kindern, um Ausflüge in die Natur, aber auch einfach auf den Spielplatz in der Nachbarschaft, spannender und lehrreicher zu gestalten. Diese Rückmeldungen zeigen, wie Naturblick als flexibles Bildungswerkzeug in verschiedenen Kontexten eingesetzt wird und dabei hilft, das Interesse und Wissen über die Natur zu fördern.

Digitale Werkzeuge wie Naturblick eröffnen neue Wege zur Gestaltung von Naturerfahrungen und zur Vermittlung von Artenwissen. Doch die Verbindung zwischen Mensch-Computer-Interaktionen und Mensch-Natur-Beziehungen ist komplex, und es gibt noch viel zu lernen. Es gilt daher zu reflektieren, wie digitale Medien und Werkzeuge die Wahrnehmung und Wertschätzung der Natur beeinflussen und welche Interaktionen am besten geeignet sind, um Beziehungen zur Natur zu fördern und gleichzeitig eine zugängliche Erfahrung zu bieten. Der kontinuierliche Dialog zwischen Entwickelnden, Forschenden und Nutzenden ist dabei nicht nur wünschenswert, sondern könnte sich als entscheidender Schlüssel erweisen, um innovative Ansätze zu finden, die sowohl die Zugänglichkeit erweitern als auch die Beziehung zur Natur stärken.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2024.