Kinder sind von Natur aus neugierig. Der Verein ORION e. V. und die Nachwuchsgruppe JunORION hat zum Ziel, diese Neugier zu stärken und Wissen über die Natur zu vermitteln.

Sandra Winzer: Die Zahl der Insekten sinkt seit Jahren – auch die ihrer Kenner. Die Lücke zwischen Profis und entomologisch Unterfahrenen möchten Sie als ORION e. V. gemeinsam mit der Stiftung Naturschutz Berlin schließen. Wie?

Simone Pollähne: Wir möchten alle Menschen erreichen, die neugierig auf die Natur sind. Das Wissen von Kindern und Erwachsenen ist gleichermaßen wertvoll. Deswegen halten wir die Mitgliedschaft bei ORION niedrigschwellig. Während man bei ORION einen Mitgliedsbeitrag zahlt, ist die Mitgliedschaft bei der Nachwuchsgruppe JunORION beitragsfrei. Hier ist jedes Alter willkommen. Das bedeutet: Egal wie – man kann bei uns mitmachen.

Wie erreichen Sie junge Menschen der Nachwuchsgruppe JunORION am besten?

Interesse wecken wir durch unsere beiden Botschafter: Rosi und Mücke, zwei Käfer einer Kinderbuch-Serie, an der ich als Autorin schreibe. Die beiden lernen in den Büchern als Käferpärchen immer wieder neue Insekten kennen. Eine Illustratorin hat uns ein kindgerechtes Logo und den Teilnehmerausweis mit Rosi und Mücke entworfen. Wir möchten, dass die Kinder und Jugendlichen regelmäßig zu uns kommen; Kontinuität ist wichtig. Bei jeder Veranstaltung bekommen die Teilnehmenden einen kleinen Aufkleber in ihren Ausweis. Der Mensch war einst Jäger und Sammler, das hat sich nie ganz geändert. Auch die Kinder und Jugendlichen möchten viele Aufkleber sammeln und kommen gerne wieder. Wer regelmäßig kommt, kann sich kostenlos ein Binokular und/oder Fachliteratur dauerhaft ausleihen.

Sie bieten auch viele Exkursionen an

Ja, alle Kinder kommen direkt mit uns und anderen Natur-Experten auf Exkursion. Gemeinsam mit den Profis sammeln wir lebende Insekten. Wir haben immer Mikroskope dabei, mit denen wir die Insekten vor Ort anschauen können. Die Kinder sollen in die Natur eintauchen – draußen vor Ort – so, wie es die Wissenschaftler machen. Die positiven Nebeneffekte: Forscherinnen und Forscher kommen aus ihrem »Elfenbeinturm« der Wissenschaft heraus, und die Kinder verlieren die Scheu vor Natur-Themen. Sie merken: Aha, das kann jeder lernen.

Insekten gehören zur artenreichsten Gruppe der Lebewesen. Spielen Sie mit dem gegenseitigen Einfluss von Menschen und Insekten auf das Leben?

Ja. Wir Menschen leben nicht allein auf der Erde und sind nur Teil der Natur – mit Abstand sogar der kleinste. Ich habe ein Diagramm entwickelt, das Kindern zeigt, wie groß die Gruppe der Insekten im Vergleich zu uns Menschen ist. In den Wintermonaten halten wir dazu auch kindgerechte Vorträge. Dabei nehmen wir unsere Nachwuchs-Forscherinnen ernst. Kinder stellen kluge Fragen und sind tolle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Vor Kurzem erst haben wir uns die Frage gestellt, ob nur Elefanten einen Rüssel haben – dabei haben wir geschaut, welche unterschiedlichen Mundwerkzeuge es bei Insekten gibt.

Auf Ihrer Seite findet sich ein Zitat von Schopenhauer: »Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.«

Das Zitat drückt für uns aus, wie wertvoll unsere Natur ist. Alles hat seine Daseinsberechtigung. Jedes Insekt in der Natur hat seinen Platz – auch, wenn es keine Sympathie bei uns Menschen trägt, wie etwa Mücke oder Zecke. Die Fragen: »Wozu brauchen wir das?« und »Nützt mir das Tier?« sind menschliche Kategorien. Wir geben Kindern mit, dass es diese Fragen nicht braucht. Alles, was da ist, ist gut. Wir lehren sie, zu beobachten, zu akzeptieren und zu staunen. Das können Kinder viel besser als wir Erwachsenen. Wenn ich als Kind lerne, die Natur zu respektieren, wird das bis ins Erwachsenenalter halten.

Die kulturelle Leistung des Menschen, die Natur zu klassifizieren und damit erkennbar zu machen, ist immens. Ist die Klassifizierung in der Entomologie abgeschlossen?

Nein, Entdeckungen wird es immer wieder geben. Auch die Evolution – der ständige »Verbesserungsprozess« der Natur – stoppt nie. Lebewesen müssen sich immer wieder an neue Bedingungen anpassen. Gerade erst entdeckte ein Kollege zwei neue Käferarten. Die Zahl der Insekten ist so gigantisch, dass wir viele von ihnen noch nicht kennen.

Ab wann gilt ein Käfer als »neuer« Käfer?

Es gibt für Insekten Bestimmungsschlüssel. Wenn ein Tier in der Literatur noch nicht beschrieben ist, kann man davon ausgehen: Das ist eine neue Art. Manchmal sind die Veränderungen so minimal, dass man sie nur unter dem Mikroskop sehen kann.

Würden Sie sagen, Umweltbewusstsein ist bei der jungen Generation – durch Fridays for Future etwa – schon vorhanden?

Das hängt stark davon ab, wie die Kinder sozialisiert sind. Es gibt Kinder, die extrem interessiert und neugierig sind und viel Wissen aufsaugen. Andere Kinder haben eher Angst vor Insekten und finden sie gruselig. Wir sagen: »Es ist okay, wenn du Angst hast und auch menschlich, wenn du dich ekelst.« Indem wir sie mit (lebenden und toten) Insekten vorsichtig in Kontakt bringen, möchten wir die Hemmschwelle reduzieren. Kinder tragen eine natürliche Neugier in sich. Darauf bauen wir auf.

Im letzten Sommer entdeckte ich eine Gottesanbeterin im Regal eines Drogeriemarktes. Die hatte sich wohl in einen Karton verirrt. Welche wesentlichen Veränderungen bei Insekten fallen Ihnen hinsichtlich des Klimawandels auf?

Besonders fällt auf, dass Insektenarten nach und nach verschwinden, zum Beispiel der Eichenheldbock. Der Trauerrosenkäfer dagegen ist ein Gewinner des Klimawandels und taucht nun auch häufiger im Norden auf. Die Gottesanbeterin ist ein wunderschönes Tier. Vor 20 Jahren war nicht daran zu denken, dass man sie in kälteren Bereichen Deutschlands findet. Mittlerweile taucht sie auch bei uns regelmäßig auf. Andere Insekten hingegen verschwinden aufgrund kleiner werdender Biotope. Die Lebensräume der Insekten verändern sich.

Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit im besten Fall erreichen?

Beim Nachwuchs soll viel Wissen und Neugier hängenbleiben – altersunabhängig. Am wichtigsten sind die Achtung und der Respekt vor unserer Natur. Wenn wir uns Zeit nehmen, stehen zu bleiben, mit den Knien auf den Boden zu gehen und zu beobachten, was auf dem Boden alles herumwuselt, hat unsere Arbeit Wirkung gezeigt. Wenn am Ende übrigbleibt, dass die Kinder kein Insekt mehr zertreten – dann haben wir schon gewonnen.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2024.