Meine Comic-Sozialisation begann 1967, ich war gerade sechs Jahre alt, mit dem ersten Band von »Walt Disneys Lustigem Taschenbuch: Der Kolumbusfalter«. Ich bekam das Buch geschenkt, um mich besser von den Auswirkungen irgendeiner Kinderkrankheit abzulenken. Viele Jahre später habe ich mit Begeisterung in »Tim und Struppi« von Hergé hineingeschaut, um später, in meiner Sturm- und-Drang-Zeit, zu U-Comix wie »Fritz the Cat« von Robert Crumb zu wechseln. Dann waren einige Jahrzehnte vollständig comic-frei. Erst mit einem Geburtstagsgeschenk meiner Söhne von Alan Moore und Dave Gibbons »Watchmen« vor wenigen Jahren wurde mein Interesse wieder geweckt.

Dieser eher sporadische Comic-Genuss ist für das Comic-Entwicklungsland Deutschland durchaus typisch. Anders als bei unseren westlichen Nachbarn Frankreich und Belgien, aber auch Italien hat der Comic in Deutschland keinen so großen Stellenwert. Comic galt in Deutschland über lange Zeit als eher zu vernachlässigende Kunstform, der, ähnlich der populären Musik, ein gewisser »Schmuddelfaktor« anhing. Wie langlebig ein solches Vorurteil ist, zeigt sich auch darin, dass bei der Beurteilung des französischen Kulturpasses für Jugendliche ein wenig hochnäsig darauf herabgeschaut wurde, dass französische Jugendliche mit Vorliebe Comics, und zwar sowohl frankobelgischer Machart als auch japanischer Provenienz mit dem Kulturpass kauften. Da schwang das alte Vorurteil mit, dass Comics doch eigentlich keine »richtigen« Bücher seien und warum hierfür öffentliche Förderung ausgegeben werden sollte.

Wer sich näher mit Comics befasst, stellt fest, dass es sich hierbei, wie in anderen künstlerischen Ausdrucksformen auch, um einen eigenen Kosmos handelt. Einen Kosmos mit erfolgreichen internationalen Playern, die weltweit vermarkten. Mit Figuren und Geschichten, die längst zum Kulturgut zählen. Mit Richtungskämpfen und Meinungsstreitigkeiten, man denke nur an die Donaldisten. Mit Erzählungen, die offenbar weltweit anschlussfähig sind. Mit Geschichten, die zu Filmen und Spielen inspirieren. Es gibt sicherlich nur wenige künstlerische Ausdrucksformen, die so stark von einem anderen künstlerischen Medium adaptiert werden, wie es bei Comics der Fall ist. Die Superhelden-Welten von Marvel und DC sind nur ein Beispiel dafür, wie auf der Grundlage von Comics eine Filmwelt erschaffen wird, die ihrerseits weltweit auf ein interessiertes Publikum stößt.

Comics sind aber auch jene Formen grafischer Erzählungen, die nicht auf ein großes Publikum zielen, die quer zum gängigen Mainstream liegen und aktuelle gesellschaftliche Themen wie die Auseinandersetzung mit Geschichte, Rassismus, Feminismus, Geschlecht oder auch Fragen der sexuellen Identität aufgreifen. Die Comic-Welt ist vielfältig, und wer sich darauf einlässt, stellt fest, wie unterschiedlich, wie vielseitig, wie humorvoll, wie bissig, wie emanzipatorisch und wie innovativ die Comic-Landschaft ist. Diese Comics erscheinen oftmals in kleinen ambitionierten Verlagen, die häufig selbst um das Überleben kämpfen. Zu entdecken ist diese Vielfalt insbesondere bei Messen, der jährlich stattfindenden ComicInvasion in Berlin oder auch beim alle zwei Jahre stattfindenden Comic-Salon in Erlangen, der das bundesweite Treffen und der Ausstellungsort der Comic-Szene in Deutschland schlechthin ist.

Wie in anderen künstlerischen Sparten auch verdeckt der große – auch wirtschaftliche – Erfolg der bekannten Comic-Zeichner und ihrer Figuren, dass viele Zeichnerinnen und Zeichner sehr wenig verdienen. Gleichfalls wird oftmals nicht gesehen, wie aufwendig und langwierig der Prozess ist, bis der fertige Comic im Buch- oder bestenfalls im Comic-Laden ausliegt. Dazu gehört, dass der Comic eben mehr als ein Bild und mehr als ein Text ist. Der Comic lebt einerseits von der Verknappung der sprachlichen Elemente, der Ausschmückung der bildlichen und der Entwicklung einer Geschichte ähnlich einem Film. Nicht umsonst bestehen enge Verbindungen vom Comic zum Animationsfilm. Bis ein Comic produktionsreif ist, vergeht nicht selten ein Jahr. Die gestiegenen Produktionskosten, angefangen bei höheren Papier- bis zu den Druckkosten, tun ihr Übriges, dass das Verlegen von Comics, die nicht den großen Markt erreichen, oftmals ein Vabanquespiel ist.

Ebenso wie der Comic selbst ein eigenständiges, künstlerisches Genre bildet, das oftmals quer zu anderen liegt, ist die Forschung zu Comics sehr unterschiedlich verortet. Ein Comic ist eben mehr als ein literarischer Text und auch etwas anderes als ein Bild oder eine Karikatur, die eine Geschichte in einem Bild auf den Punkt bringt. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist der Comic eine eigenständige Kunstform.

Die uneindeutige Verortung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Comics findet ihr Pendant in der Ausbildung von Comic-Zeichnerinnen und -Zeichnern. Nur in wenigen Hochschulen wird – zumeist in Studiengängen für Visuelle Kommunikation – das Zeichnen und Erzählen von Comics gelehrt. Insofern ist die Community der Comic-Zeichnerinnen und -Zeichner in Deutschland relativ klein. Sie zeichnet aus, dass sie europäisch vernetzt ist – besonders wichtig sind dabei die Arbeitsbeziehungen in den frankobelgischen Raum.

Noch offen ist, wie sich der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Schöpfung von Comics auswirken wird. Werden, nachdem eine Geschichte, ein Storyboard angelegt und die Figuren zeichnerisch entwickelt wurden, künftig Comics von einer KI weitergeschrieben, oder ist dies noch weit entfernt liegende Zukunftsmusik ebenso wie die Schöpfung von belletristischen Werken durch KI, die sich derzeit mit Blick auf die künstlerische Ausdruckskraft und literarische Gestaltung noch meilenweit von von Menschen geschaffenen Büchern unterscheiden? Eines steht jedenfalls fest: Comics sind mehr als bunte Bilder.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.