»Wie bekannt, liebte er das Meer, wenngleich nur vom Ufer aus«, schrieb Golo Mann über seinen Vater Thomas. Was hier wohl als kleiner Seitenhieb gemeint war, bringt allerdings schon die grundlegende Ambivalenz von Wasser zum Ausdruck: Einerseits lebenserhaltend, anziehend, schön ist das Element, andererseits lebensbedrohend, unberechenbar, abstoßend. Thales von Milet betrachtete das Wasser als Urgrund, als Substanz, woraus alle Dinge bestehen, ursprünglich entstehen und wieder vergehen. Obwohl der Mensch selbst zu einem großen Teil aus Wasser besteht und damit zum Wasserkreislauf gehört, wird das Wasser in Form von Meer, Fluss, See, Flut oder Regenfällen immer wieder zur Herausforderung, zur Bewährung und damit zum Kontrahenten stilisiert, der gebändigt werden muss. Trotzdem beeindruckt es auf einzigartige Weise, wie Jules Verne in »20.000 Meilen unter dem Meer« (1869/70) schreibt: »Das Meer ist alles. Es bedeckt sieben Zehntel der Erde. Sein Atem ist rein und gesund. Es ist eine immense Wüste, wo ein Mann nie alleine ist, in dem er fühlen kann, wie das Leben aller in ihm bebt. Das Meer ist nur ein Behälter für alle die ungeheuren, übernatürlichen Dinge, die darin existieren; es ist nicht nur Bewegung und Liebe; es ist die lebende Unendlichkeit.«

Die Literaturen der Welt haben mannigfaltige Spielformen und symbolische Bedeutungen der flüssigen Substanz hervorgebracht: Ob die stürmische Seefahrt, den Locus amoenus mit Fluss, denzur Kontemplation einladenden See, die Quelle, in der sich Narziss in sein Spiegelbild verliebt oder die alles zerstörende Flut – in der Literatur spritzt, rauscht, gurgelt, gluckert, zischt, murmelt, tröpfelt es. Wasserhelden wie Odysseus oder Moby Dick, aber auch verführerische und damit bedrohliche Wasserfiguren wie Undine, Melusine oder Loreley, die z. B. von Clemens Brentano oder Heinrich Heine besungen wird, haben sich in der Weltliteratur etabliert und treten in schillernden Variationen auf. Besonders interessant ist dabei die weibliche bzw. männliche Konnotation von verführerischen Nixen und heroischen Seefahrern. Einer der wohl berühmtesten Seefahrer, Odysseus, versucht dem verzaubernden Gesang der Sirenen zu widerstehen, einen wütenden Poseidon zu bändigen, kämpft gegen Charybdis und Skylla und erleidet schließlich Schiffbruch. Die Zahl der Schiffbrüchigen in der Literatur ist hoch. Der bildliche Gehalt des Schiffbruchs, der übrigens häufig gemeinsam mit einer einsamen Insel auftaucht wie in Daniel Defoes »Robinson Crusoe« (1719), scheint besonders reizvoll. Ebenso kann die Schiffsfahrt als Lebensfahrt gedeutet werden oder das Schiff als Allegorie des politischen Staatsschiffs wie bereits Quintilian erkannte. Hans Blumenberg, der auch dem metaphorischen Gehalt von Quellen, Eisbergen und Strömen nachgegangen ist, hat den Schiffbruch als Daseinsmetapher bezeichnet. Neben die Überlebenden gesellen sich allerdings auch die Ertrinkenden, so findet die Todessymbolik des Wassers in bestimmten Figuren wie z. B. Ophelia in Shakespeares »Hamlet« (1603) Ausdruck. Zu einem Höhepunkt zerstörerischer Wassergewalt kommt es in Form der (Sint-)Flut, die zuerst für einen chaotischen Zustand sorgt, dann jedoch einen Neubeginn ermöglicht. In der Bibel, im Gilgamesch-Epos oder in Ovids »Metamorphosen« wird diese Zerstörung positiv gewendet. Ebenso in Arthur Rimbauds Gedicht »Nach der Sintflut« (1886) steht sie symbolisch für die Reinigung einer alten Welt und für die Revolte: »quelle auf, du teich; – schaum, entrolle dich über die brücken und über die wälder; – schwarze tücher und orgeln, – blitze und donner, – steht auf und entrollt euch; – ihr wasser, ihr traurigkeiten, steht auf und bringt die sintflut zurück.«

Erscheint das Wasser einerseits als höhere Gewalt, so scheint der Mensch andererseits durch technisches Wissen die Natur »in den Griff« zu bekommen und zu objektivieren. Häufig richtet die Literatur den Blick auf diese Maßnahmen der Naturbeherrschung. In Goethes »Faust II« (1832) beispielsweise möchte Faust mit Unterstützung von Mephistopheles das Meer durch Dammbau bezwingen und so fruchtbares Land gewinnen, das zur Siedlung und Kultivierung von Land- und Viehwirtschaft verwendet werden kann. Auch in Theodor Storms »Der Schimmelreiter« (1888) steht die neue Gestaltung der Deiche im Mittelpunkt, die einen zerstörerischen Deichbruch vermeiden soll. Doch das Wasser zeigt sich trotz dieser Maßnahmen immer noch als unberechenbare Naturgewalt. Noch Jahre später besingen Led Zeppelin den Deichbruch in »When the Levee Breaks« (1971), dessen metaphorische Kraft kaum zu versiegen scheint. Wird das Meer also häufig als höhere Macht inszeniert, die bewältigt werden muss, so symbolisiert der Fluss oder auch der Brunnen dagegen Reinigung und Heilung. Herrmann Hesses Siddhartha lauscht dem Fluss und möchte von diesem lernen.

In der Gegenwartsliteratur scheinen sich zwei Tendenzen bemerkbar zu machen: Da lässt sich zum einen eine ökologische Dimension erkennen. Ilija Trojanows Klimawandel-Roman »Eistau« (2011) z. B. handelt vom Sterben eines Gletschers und seiner Verwandlung in Wasser. Im dystopischen Roman »Tentakel« der dominikanischen Schriftstellerin Rita Indiana hat ein Seebeben die paradiesische Küste der Dominikanischen Republik im Jahr 2024 in eine trostlose Landschaft verwandelt. Meeresrauschen ist nur noch als Klingelton einer Haustür zu hören. Diese ökokritische Literatur lässt sich auch als engagierte Literatur lesen: Es geht darum, die leider nicht unendlich sprudelnde Ressource Wasser wieder schätzen zu lernen, sensibel zu werden für die Folgen des Klimawandels und den Menschen als Teil des Wasserkreislaufs wahrzunehmen. Eine weitere Bedeutung erhält das Wasser in den zahlreichen Texten zu Flucht, Migration und Boatpeople. Das Meer wird hier buchstäblich zur Mauer wie im Roman »Die blaue Mauer« (2019) des haitianischen Schriftstellers Louis-Philippe Dalembert, der von drei Frauen und ihrer Flucht über das Mittelmeer berichtet. Das Wasser als Transitzone ist selbstverständlich ein altes Motiv, das beispielsweise schon von Nobelpreisträger Iwan Bunin ästhetisch umgesetzt wurde. Seine Erzählungen »Nachts auf dem Meer« sind über ein Jahrhundert alt und scheinen im Hinblick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und den flüchtenden Menschen kaum an Aktualität eingebüßt zu haben. Bunin erzählt vom Flüchtlingsschiff »Patras«, das darüber hinaus auch noch in einen Sturm gerät.

Literarische Wasserspiele sind also so facettenreich und schillernd wie das Wasser selbst, das immer wieder zu neuen Variationen inspiriert und aus der Literatur so schnell bestimmt nicht verschwinden wird. Der spanische Poet Rafael Alberti hat dafür vielleicht die passenden Worte gefunden: »Ich bin, du weißt es, Meer, dein Schüler und mög ich nie verleugnen, dass du mein Meister bist.«

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2023.