Die Journalistin Shelly Kupferberg hat im letzten Jahr ein Buch über ihren Urgroßonkel Dr. Isidor Geller publiziert. Anhand von Familienbriefen, Fotos, Dokumenten und Archivfunden zeichnet sie Isidors Werdegang nach, der durch seinen rasanten gesellschaftlichen Aufstieg aus einem ärmlichen Winkel Galiziens in die obersten Kreise Wiens geprägt ist – aber auch durch Antisemitismus, Verfolgung und Verhaftung nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. Bei ihren Recherchen zum Buch wird ein Thema zunehmend präsent: der Raub von Kulturgut durch die Nationalsozialisten. Theresa Brüheim spricht mit ihr über ihren Urgroßonkel, ihre Recherchen und sich anschließende Fragen der Restitution.

Theresa Brüheim: Frau Kupferberg, in Ihrem Buch »Isidor. Ein jüdisches Leben« schreiben Sie über Ihren Urgroßonkel: »Wenig ist von ihm geblieben. Nur ein großer Silberbesteckkasten samt Inhalt für 24 Personen. (…) Das Besteck ist ein stiller Zeuge des großbürgerlichen Anspruchs eines Mannes, der davon überzeugt war, dass ihm inmitten der guten Wiener Gesellschaft keiner etwas anhaben konnte.« Als Sie herausgefunden haben, dass von Ihrem Onkel nur dieser Besteckkasten geblieben ist, was hat das für Sie bedeutet?

Shelly Kupferberg: Ich fand es sehr bezeichnend, dass ausgerechnet dieser Besteckkasten übrig geblieben ist. Im Übrigen war das reiner Zufall. Denn alle Edelmetalle wurden von den Nazis aus jüdischen Haushalten konfisziert. Und dass dieses Silberbesteck mit auf die Flucht gen Palästina kam, ist der Schläue meiner Urgroßmutter zu verdanken. Die Nazi-Beamten haben die Dinge vorab geschätzt und überprüft, die meine Urgroßeltern mit auf die Flucht nach Palästina nehmen wollten. Am Abend, an dem sich der Nazi-Beamte mit einem Termin angekündigt hatte, hat meine Urgroßmutter ihm zur Begrüßung ein Gläschen Sliwowitz übergeben, das er dankend angenommen hat. Im Laufe des Abends wurde es feuchtfröhlich – zumindest für diesen Nazi-Beamten. So hat er ein Stück weit aus dem Auge verloren, was er prüfen sollte und wurde nachlässig. Kurzum, dieser Besteckkasten hat zum einen diese sehr interessante Geschichte. Und zum anderen ist er symbolisch: Isidor war ein Lebemann und gab gern stadtbekannte Bankette für die feine Wiener Gesellschaft. Jeden Sonntag lud er also die Crème de la Crème ein. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Bestecke zum Einsatz kamen. Dieser Besteckkasten steht für die goldenen Zeiten des Onkels, als er in Saus und Braus in seinem wunderschönen Palais mit Kunstschätzen in Wien lebte und sich sehr sicher wähnte. Er dachte sich, inmitten dieser feinen Wiener Gesellschaft könne ihm nichts passieren. Und dieser Besteckkasten erinnert mich genau daran, an diese Haltung.

In einem Interview mit der taz berichten Sie, dass Ihnen im Rahmen der Moderation einer Tagung zu NS-Raubkunst und Provenienzforschung der Gedanke an Ihren Urgroßonkel und somit auch zum Buch kam. War NS-Raubkunst also der ausschlaggebende Anlass, diese Familiengeschichte aufzuarbeiten?

Richtig, vor fünf Jahren habe ich eine internationale Konferenz in Berlin zu diesem Thema moderieren dürfen. Zuvor hatte ich mich nur rudimentär mit dem Thema beschäftigt. Währenddessen fiel mir ein, dass in meiner Familie immer wieder von diesem Urgroßonkel erzählt wurde, der angeblich sehr vermögend war und in einem Palais lebte. Da dachte ich: Dieser Mann, in einem Palais lebend, muss doch auch Kunst besessen haben. Denn ein Palais hat zu diesen Zeiten nicht durch nackte Wände geglänzt. Das brachte mich auf die Idee, eine Anfrage beim Österreichischen Staatsarchiv zu stellen, ob es diesen Mann tatsächlich gab. Ich fand als Erstes seine sogenannte Vermögenserklärung, die jeder Jude, jede Jüdin im Deutschen Reich und im angeschlossenen Österreich zu machen hatte. Hier musste der komplette Besitz aufgelistet werden. Schnell war klar, da gab es Kunst. Und ich fragte mich, was ist mit dieser Kunst passiert? Denn bei der Konferenz erfuhr ich, dass die Nazis ungefähr eine halbe Million Kunstwerke raubten. Davon ist nur ein Krümelchen gefunden worden, geschweige denn restituiert. So ging meine Spurensuche los.

Wie sind Sie weiter bei der Recherche vorgegangen? Später im Buch berichten Sie, dass Sie in den Archiven – zumindest auf dem Papier – nicht nur auf Kunst, sondern auch auf eine ausufernde Bibliothek, kostbares Interieur, Wertsachen, zahlreiche von den Nazis gestohlene Dinge gestoßen sind.

Anhand der Vermögenserklärung wusste ich also, was er alles besaß. Es war ein riesiger Stapel Schriftsätze vom Österreichischen Staatsarchiv – bis zum letzten Mokkalöffel wurde alles aufgelistet. Aber was macht man dann? Ich habe in zahlreichen Archiven geschaut, wo er noch eine Spur hinterlassen haben könnte. Da eignen sich Zivilbehörden, also Geburts- und Sterbeurkunden, Heiratsurkunden. Er war angeblich unverheiratet. Aber das stimmt nicht. Ich fand in seinem Nachlass einen Ehering aufgelistet. Natürlich kann man einen Ehering erben oder für gesellschaftliche Anlässe erwerben. Aber ich habe weiter recherchiert – unter anderem in der Israelitischen Kultusgemeinde und an Standesämtern: Er war zweimal verheiratet. Aus diesen Scheidungsunterlagen wiederum konnte ich mehr über sein Leben herausfinden. Denn man musste damals sehr genau rechtfertigen, warum eine Ehe nicht mehr funktioniert. Das waren teilweise sehr intime Informationen.

Wiederum im Archiv der Universität Wien fand ich seine kompletten Studienunterlagen. Er hat von 1908 bis 1912 dort studiert. Aus Personalbögen, die Semester für Semester von den Studierenden ausgefüllt werden mussten, ging auch seine schulische Karriere hervor. Er hat z. B. die Matura am polnischen Gymnasium in Kolomea absolviert. Mit diesen Informationen wiederum konnte ich an den Archiven im heutigen Polen oder in der Ukraine vor Ort anklopfen. Es war eine detektivische Suche.

Ich wollte den Weg der Dinge nachzeichnen. Diese Suche gleicht der Nadel im Heuhaufen. Zum Glück hatte ich großartige Unterstützung von Provenienzforscherinnen und -forschern sowie Archivarinnen und Archivaren aus Österreich. Die Nazis waren in vielen Dingen sehr gründlich. Paradoxerweise konnte ich nur durch diese Gründlichkeit so viel aus dem Leben von Isidor rekapitulieren. Andererseits wussten sie schon, welche Schweinereien sie begangen, und haben vieles verklausuliert. Wenn es um das Konfiszieren z. B. von Gemälden ging, steht dort lediglich z. B. »Winterlandschaft, Bild, Öl auf Leinwand«. Selten finden sich der Name des Künstlers oder der wahre Titel des Bildes. Das macht die Suche in den Lost-Art-Datenbanken und darüber hinaus so schwer.

Haben Sie etwas von Isidors Besitz wiedergefunden?

Ich habe zwei kleine Dinge aus seinem Besitz wiedergefunden. Zum einen ein sehr aufwendig gestaltetes Exlibris. Das hat man sich als eine Art Visitenkarte für die eigenen Bücher anfertigen lassen. Durch ein besonders schönes, großes, aufwendiges Exlibris – am besten bei einem berühmten Grafiker – konnte man sich exponieren, seinen Status markieren. Und das hat Isidor getan. Das Exlibris befindet sich heute in der Grafischen Sammlung im Museum für angewandte Kunst in Wien. Ausgehend von diesem Fund dachte ich: Isidor hatte bestimmt eine kostbare Bibliothek. Was ist mit den Büchern, wo könnten die heute sein?

Nach langen Recherchen stieß ich auf eine sehr gruselige Bibliothek, die sogenannte Stürmer- und Streicher-Bibliothek in Nürnberg. Das war die Bibliothek des Redaktionsleiters des antisemitischen Hetzblattes »Der Stürmer«, Julius Streicher, der sich aus den Bibliotheken der Länder, in die die Nazis einfielen, einiges zusammenrauben ließ. Die Redaktionsräume samt Bibliothek wurden nach dem Krieg von den Alliierten sichergestellt und dann von den Amerikanern an die Stadt Nürnberg übergeben. Vor einigen Jahren wurden sie der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg übergeben, um Nachfahren der Besitzerinnen und Besitzer dieser Bücher zu suchen. Dort fand ich ein Buch von Isidor, was inzwischen restituiert und bei mir ist.

Ich würde gern einen Sprung zu Ihrem Großvater Walter, also Isidors Neffen, machen. Im Gegensatz zu Isidor konnte er rechtzeitig fliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist er für kurze Zeit nach Wien zurückgekehrt, wo er seine ersten 19 Lebensjahre verbracht hat. Im Buch beschreiben Sie eindrücklich die Rückkehr in sein altes Wohnhaus: Zuerst liest er an den Klingelschildern die Namen. Die ehemaligen Nachbarn wohnen nicht mehr dort, es waren fast allesamt jüdische Familien. Aber die Hauswartsfamilie ist noch dieselbe. Sie schreiben: »Nur, dass sie nicht mehr im ersten Stock des Hauses logiert, sondern im dritten Obergeschoss. Das macht ihn stutzig. Als er bei dem Ehepaar klingelt, öffnet die Hauswartsfrau die Wohnungstür und erkennt Walter sofort. Kreidebleich ruft sie in die Wohnung hinein: ›Der Jud’ is wieda doa!‹ Worauf ihr Mann rüde antwortet: ›Sag koa Wort!‹ In den wenigen Sekunden, ehe sie die Tür vor Walters Nase zuschlägt, kann er einige Möbel seiner Eltern und ehemaliger Nachbarn ausmachen.« Wie wird heute in Ihrer Familie darüber gesprochen?

Mein Großvater hatte uns Enkelkindern davon erzählt. Ich lese diese Szene auch gern bei meinen Lesungen. Mittlerweile habe ich 100 Lesungen in über 60 Städten absolviert. Und ich stelle fest, dass diese Szene immer wieder erschüttert. Auch wenn es banal ist, zeigen sich hier viele Abgründe. Das ist leider eine so selbstverständlich jüdische Erfahrung, dass die unter Juden gar nicht weiter schockiert. Und das ist auch interessant. Bei einem nicht jüdischen Publikum geht ein kurzes, schockiertes Raunen durch den Raum. Es ist ein »Was?!« oder »Um Gottes willen« zu hören.

Aber vor einigen Monaten habe ich in einem explizit jüdischen Rahmen gelesen – da gab es eine andere Reaktion: »Ach ja …!« – das war die Reaktion des überwiegend älteren Publikums. Es stellte sich raus, dass jeder Zweite eine Geschichte zu erzählen hatte, die ähnlich war. Das ist bitter und menschlich abgründig, aber gleichzeitig noch das Harmloseste der ganzen Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte – denn es geht ja nur um Dinge und nicht um Leben.

Gibt es etwas, was Sie bei den Recherchen überrascht hat?

Mir war nicht bewusst, wie viel herrenloses Zeug in den Archiven, Depots und Magazinen unserer Museen schlummert. Zusammengeraubte Dinge, von denen man nicht weiß, wem sie einst gehörten. Das sind Umzugsgüter en masse – ganze Wohnungseinrichtungen, Hausrat, Kunstgewerbe, Kunsthandwerk, auch Kunst selbst. Mit fast allen Museen, mit denen ich auf der Suche nach den Dingen von Isidor im Kontakt war, konnte ich davon Zeugin werden. Es gibt so viele Dinge, die durch diesen enormen Raub der Nazis in Lagern stehen, und keiner weiß, wem sie gehören.

Das stimmt. Aber bei anderen Sachen weiß man, wem sie gehören.

Da braucht es einen Mentalitätswandel innerhalb der Museen. Restitution ist manchmal bitter für die Museum, denn es herrscht die Angst vor, dass eine Sammlung »beschädigt« wird. Aber es gibt tausend Lösungen. Die meisten Familien haben ein großes Interesse daran, dass Kunstwerke und andere wirklich wertvolle Dinge gut in Museen aufbewahrt werden. Und wenn etwas im Museum verbleibt, müssen die Museen das als Möglichkeit sehen, eine Geschichte des Objekts zu zeigen und Weltgeschichte somit aus anderer Perspektive zu erzählen. Ich höre immer wieder, dass sich Museen sträuben, sich dem zu stellen. Aber wir haben keine andere Chance, als diese Geschichte aufzuarbeiten. Und wir haben letztlich keine Aktien mehr da drin. Die Verwicklungen, die gab es vielleicht bei der großelterlichen Generation. Inzwischen ist es manchmal sogar die urgroßelterliche Generation. So what?! Wir haben nicht die Schuld. Aber wir haben eine Verantwortung als Nachgeborene und die Möglichkeit, diese Geschichten zu erzählen. Das Wenigste, was wir machen können, ist, ein Fünkchen Gerechtigkeit zu üben. Es geht »nur« um unsere Museen. Es geht hier nicht um Menschenleben. Der Reichtum der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg beruht zu einem Großteil auf dem, was geraubt und erbeutet worden ist. Und nach dem Krieg waren die Eliten größtenteils die gleichen wie während des Krieges. Sie blieben es trotz Zerschlagung, trotz Alliierter, trotz Verträge, trotz Restitution. Restituiert wurde ein Krümel und nicht mehr. Und das ist ein Zustand, der schwer auszuhalten ist. Auch wenn es nur um Material und nicht um Menschenleben geht. Aber das ist das Mindeste, was man sich wünschen würde, dass es eine Offenheit diesem Thema gegenüber gibt.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.