Während der Zeit des Nationalsozialismus war die heutige Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz die wichtigste deutsche Bibliothek mit engen Beziehungen zum Staatsapparat in der Reichshauptstadt. Daraus resultierten zahlreiche Zuweisungen geraubter Bücher. Auch die sogenannte Reichstauschstelle zu Ausbau und Wiederherstellung von Bücherbeständen befand sich seit 1934 unter dem Dach des Hauses. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Staatsbibliothek seit Langem ihrer besonderen Verantwortung und engagiert sich intensiv im Bereich der Provenienzforschung. Besondere Aufmerksamkeit galt bislang dem Bereich des NS-Raubguts sowie den Aktivitäten der Reichstauschstelle und des Zentralantiquariats der DDR. In jüngster Zeit wendet sich das Haus auch vermehrt erworbenen Materialien aus kolonialen Kontexten zu. Die Provenienzforschung und -erschließung hat sich in den letzten 25 Jahren zu einem international vernetzten Profilschwerpunkt der Bibliothek entwickelt und wird von einem wachsenden Team innerhalb der Abteilung Handschriften und Historische Drucke vorangebracht. Ohne die von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zur Verfügung gestellten Mittel und die enge Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste wären der Aufbau und die Verstetigung dieses Arbeitsbereichs im erreichten Umfang keineswegs möglich gewesen.
In den 25 Jahren seit Beschluss der »Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden (Washington Principles)« hat die Staatsbibliothek bereits aufwendige Überprüfungen ihrer Bestände durchgeführt, um Exemplare, die ihren Eigentümerinnen oder Eigentümern in der Zeit des Nationalsozialismus unrechtmäßig entzogen oder abgepresst wurden, zu identifizieren und an die Berechtigten zurückzugeben. Dazu erfassten die Beschäftigten detailreiche Provenienzdaten zu fast 200.000 Büchern aus dem Altbestand der Staatsbibliothek. Aktuell sind 7.100 Bücher als NS-Raubgut oder als einschlägige Verdachtsfälle bewertet, wovon 2.315 Exemplare zurückgegeben werden konnten. Wo immer die Rechtslage eindeutig ist, werden die ermittelten Drucke schnellstmöglich an die Berechtigten restituiert.
Das erste Rückgabeangebot endete seinerzeit mit einem Verzicht, da sich die Witwe des jüdisch-niederländischen Religionswissenschaftlers Isac Leo Seeligmann für den Verbleib des 1941 von den deutschen Besatzern geraubten Buches in den Sammlungen der Staatsbibliothek entschied. Es folgten Restitutionen an die Nachkommen von Leo Baeck, Alfred Kerr und Artur Rubinstein. Neben diesen bekannten Namen stehen unbekannte Schicksale wie das von Hedwig Hesse, deren Bücher durch ein besonders fantasievolles Exlibris, eine ein Buch verspeisende kleine Eule, gekennzeichnet sind. Oft konnten jeweils nur wenige Stücke aus geraubten Bibliotheken identifiziert werden, doch auch ein einzelner Band, wie das recht unscheinbare hebräische Gebetbuch des auf dem Transport nach Auschwitz ums Leben gekommenen Anton Gustav Dreher, besitzt für seinen über 90-jährigen Cousin heute unschätzbaren Wert. In Australien lebend, konnte das Werk an ihn im Jahr 2022 übergeben werden.
Neben jüdischem Eigentum ließen sich auch Bücher aus Logenbibliotheken und aus sozialistischen bzw. gewerkschaftlichen Einrichtungen restituieren, darunter die fast vollständig erhaltene Bibliothek der Potsdamer Loge »Teutonia zur Weisheit« und zahlreiche Exemplare aus der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Die enge Zusammenarbeit mit französischen Stellen machte es in den letzten Jahren möglich, zahlreiche Widmungsexemplare aus französischen Privatbibliotheken zuzuordnen und an die Berechtigten zurückzugeben, darunter 33 aus den Redaktionsräumen der Zeitung Le Figaro geraubte Bände. Vier Bücher aus Berliner Bestand übergab Premierministerin Élisabeth Borne im letzten Jahr in Paris an die Erben des 1944 ermordeten Politikers Georges Mandel.
Neben der systematischen Prüfung ihrer Bestände auf NS-Raubgut betreibt die Staatsbibliothek zu Berlin Grundlagenforschung, entwickelt Datenmodelle und engagiert sich in der Aus- und Fortbildung zur Provenienzforschung. Studierende werden regelmäßig bei Qualifikations- und Masterarbeiten aus diesem Themenspektrum betreut. Unter dem Hashtag »Spurensuche« organisiert die Staatsbibliothek gemeinsam mit anderen Berliner Gedächtnisinstitutionen geführte Provenienzspaziergänge zum internationalen Tag der Provenienzforschung. Sämtliche Daten zur Herkunft der Exemplare und zu den vorbesitzenden Personen stehen im Netz frei zur Verfügung und werden durch das vor knapp 20 Jahren eingerichtete »ProvenienzWiki« mit Bildmaterial und umfangreichen Dossiers zu Bibliotheken und Sammlungen sowie den mit ihnen verbundenen Personen und Institutionen ergänzt.
Gleichwohl bleibt noch viel zu tun: Sammlungen wie Karten, Handschriften, Musikalien, Autografen und Nachlässe sind systematisch auf ihre Herkunft zu prüfen, der Zugang zu Erwerbungsakten und anderen Quellen kann durch Transkriptionsprogramme optimiert werden. Die Forschung zu den Wegen der Bücher vor und nach 1945 muss folglich weiter vorangetrieben werden, und neue Felder der Provenienzforschung wie der Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten erfordern Verständigungsprozesse mit allen Stakeholdern. Die Staatsbibliothek wird sich daher auch weiterhin konsequent in der Provenienzforschung engagieren und die Vernetzung von Wissen mit neuen Technologien und Kooperationen unterstützen.