Im letzten Moment einigten sich alle auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Damals, an jenem 3. Dezember vor 25 Jahren. Vertreter aus 44 Ländern waren Ende November 1998 zu einer mehrtägigen Konferenz in Washington zusammengekommen, um über die Restitution von NS-Raubkunst zu verhandeln. Botschafter Stuart E. Eizenstat hatte zu der Konferenz eingeladen. In der damaligen, von Bill Clinton geführten US-Regierung war er Sonderbeauftragter des Präsidenten und des Außenministers für Holocaust-Fragen. Zusammen mit seinem Kollegen aus dem diplomatischen Dienst, J. D. Bindenagel, entwickelte Eizenstat die Kompromisslinie, die die Konferenz vor dem Scheitern bewahrte: Sie schlugen vor, die Washingtoner Prinzipien als freiwillige Grundsätze zu definieren, zu deren Anwendung sich die Staaten – verbindlicher und weniger verbindlich – verpflichten könnten. Viele Skeptiker befürchteten, dass die so verfassten Washingtoner Prinzipien keine große Wirkung entfalten würden. Stuart Eizenstat erinnert sich aber auch an die Einschätzung des damaligen Leiters des Metropolitan Museum of Art in New York, Philippe de Montebello, der auch der Association of Art Museum Directors vorstand. Er prophezeite damals, dass die Kunstwelt mit den Washingtoner Prinzipien »nie wieder dieselbe sein würde«.
Viele neue Institutionen und Forschungsprojekte
Philippe de Montebello sollte recht behalten. Seit Verabschiedung der Washingtoner Prinzipien hat sich die Art und Weise, wie wir über NS-Raubkunst denken, sowohl in Museen als auch auf dem Kunstmarkt nachhaltig verändert. Die American Alliance of Museums hat ein eigenes Portal eingerichtet, das mit 179 Museen verbunden ist. Dieses Portal erleichtert es betroffenen Familien, ihre Ansprüche geltend zu machen. Fünf europäische Länder haben Kommissionen eingerichtet, die bei der Lösung von Streitigkeiten über die Rückgabe von Kunstwerken helfen sollen. Große internationale Auktionshäuser wie Christie’s und Sotheby’s haben Spezialabteilungen für die Klärung der Provenienz jedes zu versteigernden Kunstwerks und für die Bearbeitung von Restitutionen eingerichtet. Und das Europäische Parlament hat 2019 eine Entschließung über die Rückgabepraxis von Kunstwerken angenommen, die von den Nazis beschlagnahmt wurden. Auch in Deutschland veränderten sich nach 1998 nicht nur die Art und Weise, wie über Museumssammlungen und den Kunstmarkt gedacht wurde, sondern auch die institutionelle Landschaft. Im Jahr 2003 beschlossen Bund, Länder und kommunale Spitzenverbänden gemeinsam, eine unabhängige Beratende Kommission einzurichten. Die Kommission sollte immer dann vermitteln, wenn es Differenzen gab im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts aus jüdischem Besitz.
2015 wurde das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK) als zentraler Ansprechpartner zu Fragen NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts insbesondere aus jüdischem Besitz gegründet. Es fördert die Provenienzforschung in Deutschland vor allem an kulturbewahrenden Einrichtungen.
Am 25. Jahrestag der Unterzeichnung der Washingtoner Prinzipien bewegt uns vor allem die Frage, wie der formulierte Anspruch der »gerechten und fairen Lösungen« in der Praxis eingelöst wird. Verstehen die Museen sich inzwischen tatsächlich als Akteure im Prozess der Provenienzforschung, und mündet diese Forschung schließlich in Restitutionen?
Nur wenig Restitution
Im Jahr 2016 hat das Institut für Museumsforschung 6.712 in die Gesamtstatistik einbezogene Museen gefragt, ob sie aktiv die Sammlungsgeschichte und Herkunft der von ihnen bewahrten Objekte recherchiert und erforscht haben. 4.065 von ihnen haben geantwortet, und rund zehn Prozent der Häuser gaben an, die Provenienz ihrer Sammlungsobjekte von 1999 bis 2015 punktuell aktiv erforscht zu haben. Nur ein geringer Teil von ihnen hat ihre Sammlung überprüft.
Eine ähnliche Statistik findet sich auf der DZK-Webseite. Dort heißt es, dass an 242 von insgesamt 7.120 Museen in Deutschland Projekte zur Provenienzerforschung von NS-Raubkunst laufen oder gelaufen sind. Das sind nicht einmal fünf Prozent.
Diese niedrigen Prozentsätze passen auch zu dem Bild, das sich in der Lost-Art-Datenbank bietet: Unter der Rubrik Malerei im Bereich Suchmeldung finden sich im November 2023 in der Verlustumstandskategorie NS verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut 10.447 Einträge. Weniger als drei Prozent dieser Objekte wurden restituiert. Im Bereich Fundmeldung sind 1.809 Objekte verzeichnet. Davon wurden in den vergangenen 20 Jahren sieben Prozent restituiert. Bei der Kunstverwaltung des Bundes sieht es ähnlich aus.
Mehr Verbindlichkeit und Transparenz
Diese Daten belegen, dass das Restitutionssystem in Deutschland dringend reformiert werden muss. Die bisherige Restitutionspraxis von NS-Raubkunst führt nur selten zu Restitutionen. Die Rolle der Beratenden Kommission muss aufgewertet werden. Sie sollte als unabhängige Bundesbehörde mit eigenem Verwaltungsapparat installiert werden und über die Restitution von NS-Raubkunst entscheiden können. Ihre Mitglieder sollten zu gleichen Teilen von der Bundesregierung und von NS-Opferorganisationen vorgeschlagen und vom Bund bestellt werden. Dies erhöht die Akzeptanz der Entscheidungen und führt zu einer größeren Befriedung. Zudem sollten die Entscheidungen bindend sein, sodass man nicht mehr mit einer Beratenden, sondern mit einer Entscheidenden Kommission zu tun hat.
Außerdem sollen die Opfer die Herbeiführung einer Entscheidung initiieren können. Beispielsweise kann die Zahl der Entscheidungen der Kommission durch die Einführung eines einseitigen Anrufungsrechts erhöht werden. Die Grundlage für ihre Entscheidungen aber sollte ein Bundesgesetz sein, das im Bereich der NS-Raubkunst Verbindlichkeit und Transparenz herstellt. Nur über ein Gesetz können alle wesentlichen Themen wie beispielsweise die Ersitzung, die Verjährung oder die Entschädigung befriedend und abschließend geregelt werden.
Die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der sogenannten Wiedergutmachung hat der Bund. Er hat diese Kompetenz in der Vergangenheit genutzt, um alle Themen im Bereich der Holocaust-Entschädigung zu regeln und etwa das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG), das Vermögensgesetz und das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto (ZRBG) erlassen.
Warum sollte der Bund seine Gesetzgebungskompetenz nicht auch für das letzte offene NS-bezogene Entschädigungsthema nutzen? Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses Ronald Lauder nannte die von den Nazis gestohlenen Kunstwerke einmal »die letzten Gefangenen des Zweiten Weltkriegs«. Beim Festakt zum 20-jährigen Bestehen der Beratenden Kommission nahm Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Lauders Diktum auf und forderte: »Befreien wir sie!« Ich schließe mich seinem Appell an. Worauf warten wir noch?