Daniel Sheffer setzt sich mit anderen für die Neuerrichtung der von den Nazis vernichteten zentralen Hamburger Synagoge ein. Mit Ludwig Greven spricht er über verschüttete jüdische Identitäten, erneute Arisierungen in der Nachkriegszeit und darüber, warum er eine wiedergefundene Thorakrone der Synagoge kaufen musste.

Ludwig Greven: Herr Sheffer, seit den israel- und judenfeindlichen Demonstrationen und Vorfällen nach dem Massaker der Hamas fragen sich viele Jüdinnen und Juden verstärkt, ob noch Platz für jüdisches Leben in Deutschland ist. Haben Sie in den vergangenen Wochen mal an Ihrem Vorhaben gezweifelt, die 1938 in der Reichspogromnacht zerstörte Hambur-ger Bornplatzsynagoge wieder zu errichten?

Daniel Sheffer: Nein, zu keinem Zeitpunkt. Die Hamburger Bürgerschaft hat Ende September auf unser Drängen einstimmig beschlossen, den Platz der Synagoge 85 Jahre nach seiner Arisierung endlich an die jüdische Gemeinde zurückzugeben. Ein Sieg der Gerechtigkeit jüdischen Lebens über die Barbarei der Nazis. Das ist für mich vorrangig. Infrage steht jetzt allerdings unser Ziel, dass wir keinen Zaun um die Synagoge haben wollten. Dass sie frei stehen kann und nicht geschützt werden muss wie jedes andere Gebäude in Deutschland, das jüdisches Leben beherbergt. Daran allein kann man ermessen, wie sich die Sicherheit jüdischen Lebens durch den Angriff der Hamas und alles, was seitdem passiert ist, verändert hat.

Weshalb hat es mehr als 80 Jahre gedauert, dass die Stadt Hamburg das damals enteignete Gelände der Synagoge zurückgegeben hat? Weshalb ist das nicht gleich nach der Befreiung geschehen?

Es gab auch vor uns immer wieder Gemeindeverantwortliche, die den Wunsch geäußert haben, dass man dieses Areal wie auch andere geraubte Grundstücke und Gebäude der Gemeinde restituiert. Das ist aber bis zu unserer Initiative weitestgehend ohne Gehör geblieben. Warum – da müssen Sie andere fragen. Die Verantwortung dafür trägt die nicht jüdische Gesellschaft. Ein weiteres Beispiel ist der frühere Tempel in der Oberstraße, heute das Liebermann-Studio des NDR. Das war die größte Synagoge für das liberale Judentum in Europa, ein Herzstück. Wenn Sie heue in den USA irgendwo in eine Reformsynagoge gehen, beziehen die sich immer noch auf diese Synagoge. Auch da gab und gibt es immer wieder Gespräche über eine Restitution, aber ohne Erfolg. Mit der Bornplatzsynagoge ist jedoch ein Umdenken eingetreten. Das macht Mut. Die, die jetzt in der Bürgerschaft und im Senat sitzen, haben anders entschieden als ihre Vorgänger und gesagt, wir sind andere Deutsche, die es nicht ein zweites Mal arisieren; das ist ein Stück jüdischer Identität, das gehört der jüdischen Gemeinde. An anderen Orten steht das noch aus.

Vor einiger Zeit ist eine Thorakrone der Synagoge wieder-aufgetaucht. Wie kam es dazu?

Unser Rabbiner rief mich im Sommer 2020 ganz aufgeregt an. Ein Antiquitätenhändler in der Hamburger Innenstadt hatte sich gemeldet und gesagt, er habe einiges, von dem er glaube, dass es jüdischer Besitz sei und womöglich früher in Synagogen verwendet wurde. Wegen Corona wolle er sein Lager auflösen und uns einen Gegenstand zum Kauf anbieten. Als wir zu ihm kamen, gab er uns eine Hutschachtel. Daraus kramten wir einen Gegenstand hervor, den wir sofort als Krone identifizierten, mit der man in wohlhabenden Synagogengemeinden häufig Thorarollen verziert, um zu zeigen, wie wertvoll die Heilige Schrift ist. Auf Hebräisch konnten wir auf ihr eine Widmung für Markus Abraham Hirsch lesen, von 1906 bis 1909 erster Rabbiner der Synagoge. Uns war sofort klar, dass wir damit den einzigen stummen Zeugen der Reichspogromnacht in Händen hielten. Ein wichtiges Stück jüdischer Identität nach über 80 Jahren. Der Händler wollte dafür Geld haben, schließlich hatte er sie selbst irgendwann erworben. Mir widerstrebte jedoch alles, dafür noch etwas zu bezahlen, was unseren Vorfahren geraubt worden ist. Die Shoah war ja nicht nur der größte Massenmord, sondern auch der größte Raubzug in der Geschichte der Menschheit.

Warum haben Sie die Thorakrone dennoch gekauft?

Ich hätte jeden Preis dafür gezahlt. Uns Jüdinnen und Juden ist ja nicht viel unserer Identität geblieben. Wir kennen zum Teil nicht einmal unsere Stammbäume. Man hat unseren Vorfahren alles genommen, Archive wurden zerstört. Dass wir mit der Thorakrone wieder ein Stück unserer Vergangenheit vor Augen hatten, hat unendliche Bedeutung für mich. Ich habe sie sofort erworben und der Gemeinde gespendet.

Hat der Händler Ihnen gesagt, wie er in den Besitz der Thorakrone gekommen ist?

Das wenige, was wir ihm entlocken konnten, war, dass sie im Keller eines Juwelierhauses bei Aufräumarbeiten entdeckt wurde und dieser Juwelier sie nicht an die jüdische Gemeinde zurückgeben wollte. Über ein oder zwei Händler sei sie dann bei ihm gelandet. Das heißt, sie war über 80 Jahren vor unseren Augen verborgen in unserer Stadt.

Haben Sie nicht daran gedacht, auf Rückgabe zu klagen, statt sie zurückzukaufen?

Ich habe mich bei einer Beratungsstelle für solche Fragen erkundigt. Aber die Zeit für ein langwieriges juristisches Verfahren war nicht da. Es bestand die Gefahr, dass der Händler sie inzwischen jemand anderem verkauft hätte und dieses Zeugnis jüdischen Lebens endgültig verloren wäre. Das war das Einzige, was für mich in dem Moment zählte. Der Fund der Thorakrone war für mich aber auch ein Weckruf. Mir wurde klar, dass die Restitution jüdischen Vermögens gar nicht richtig stattgefunden hat. Wie lächerlich der Hamburger Senat über all die Jahre in Sachen Bornplatzsynagoge vorgegangen ist und uns Juden im Grunde ein zweites Mal enteignet hat. Das hat mich unheimlich wütend gemacht und enttäuscht. Derselbe Nazi, der 1938 angeordnet hat, die Synagoge anzustecken und zu schänden, und der danach die jüdische Gemeinde auch noch zwang, die Ruine auf ihre Kosten abzureißen, weil sie nun ein Schandfleck für die Stadt sei, hat 1953 Vergleichsvereinbarungen mit jüdischen Organisationen unterschrieben, die Anspruch auf enteignetes Vermögen auch von Ermordeten stellten. Dadurch wurde auch das Gelände der früheren Synagoge auf die Stadt überschrieben – eine zweite Arisierung im Namen der Bundesrepublik. Als ich das erfuhr, war ich so entrüstet, dass ich mir sagte: So, nun starten wir eine Initiative zur Wiedererrichtung der Synagoge. Und wir fragen die Bevölkerung: Wollt ihrjüdisches Leben mitten in eurer Stadt sichtbar und erlebbar haben? Denn es hat ja keinen Sinn, jüdisches Leben wieder zu verankern, wenn es nicht willkommen ist.

Wie wurde die Initiative aufgenommen?

Von der jüdischen Gemeinde wurde sie anfangs nicht nur positiv gesehen. Sie fragten mich: Daniel, was tun wir denn, wenn nur 5.000 Leute dafür sind? Wie viele Leute braucht es, dass wir uns sicher und bestätigt fühlen? Und wenn wir nicht genügend Unterstützung bekommen, heißt das nicht im Umkehrschluss, wir sind nicht willkommen? Ich habe ihnen gesagt: Wir müssen den Mut aufbringen, diese Frage zu stellen. Diese Frage ist jetzt noch viel dringender: Deutschland im Jahr 2023 – wollt ihr jüdisches Leben in eurer Mitte? Seid ihr andere Deutsche?

Und wie war die Antwort vor drei Jahren?

Mehr als 100.000 Hamburger Bürger haben sich für den Wiederaufbau der Synagoge ausgesprochen. Daraufhin hat sich auch die Bürgerschaft hinter das Projekt gestellt.

Sind außer der Thorakrone noch andere Gegenstände der Synagoge aufgetaucht?

Nachdem darüber breit berichtet wurde, ist uns die Information zugegangen, dass in New York in einem Museum eine ihrer fünf Thorarollen sein soll. Da sind wir im Moment in Gesprächen und Prüfungen. Die sind schwierig. Denn die Heilige Schrift ist immer gleich. Da steht nicht drauf, welcher Gemeinde sie gehört. Allein anhand von Verzierungen kann man sie identifizieren, z. B. einen Samtmantel. Aber den wird es nach so langer Zeit nicht mehr geben. Vielleicht kann man an der Schriftart erkennen, wer der Thoraschreiber war. Dafür braucht man Experten. Es haben sich aber auch Leute gemeldet, deren Großeltern in der Synagoge gebetet oder ihre Bar-Mizwa gefeiert haben, und uns Fotos geschickt. Es ist eine schöne Bewegung auch internationalen Interesses an der Synagoge entstanden.

Im Moment gibt es Probegrabungen auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge. Was ist dabei bisher entdeckt worden?

Schon nach 30 Zentimetern hat man die ersten Artefakte gefunden und die erste Berührung mit der Synagoge gehabt. Das gesamte Bodenfundament ist sichtbar, Fensterrahmen, intakte Fliesen, Kapitole, unzählige farbige Scherben der Fensterscheiben. Die Mikwe ist fast komplett noch da. Die Nazis haben zum Glück die Synagoge nicht entkernt, sondern mit den Resten den Keller zugeschüttet. Dadurch ist vieles erhalten geblieben. Das hätte man aber schon längst wieder freilegen können. Erst durch unsere Initiative kommt es jetzt ans Tageslicht: das jüdische Erbe und die jüdische Identität Hamburgs.

In welcher Form soll die Synagoge wiedererrichtet werden? So wie sie 1938 war?

Die jüdische Gemeinde ist heute eine andere als damals. Dem muss das Gebäude Rechnung tragen. Wir wollen Räume schaffen sowohl für das liberale als auch das traditionelle Judentum. Weltweit gibt es nur wenige Orte, wo beide Richtungen zusammenkommen. Wir wollen, weil das jüdische Lebenheute sehr vielfältig ist, aber auch, weil wir nicht so viele sind, für jede Strömung tragfähige Strukturen schaffen. Das Gebäude muss jedoch auch die Geschichte der Synagoge widerspiegeln. Es kann nicht losgelöst von den Ereignissen zwischen 1938 und 1945 funktionieren, auch nicht von der Nachkriegsgeschichte. Dem Nicht-wissen-Wollen, dem Zudecken, dem Verdecken jüdischen Lebens und jüdischer Identität. Das muss das Gebäude architektonisch wiedergeben. Äußerlich werden wir uns an der alten Form orientieren. Viele Behördenvertreter und Kunsthistoriker begreifen das nicht, sie wollen uns vorschreiben, wie sie auszusehen hat. Das ist schon deshalb unsinnig, weil wir ja als Gemeinde die Synagoge wieder zum Leben erwecken. Sie wurde unseren Vorfahren zerstört. Also sollten wir auch das Recht haben, zu entscheiden, wie der Neubau aussieht. Es ist aber auch falsch, weil es unsere Identitäten und Biografien sind, die gekappt wurden. Meinem Vater, der als Einziger aus seiner Familie überlebt hat, blieben nur eine Handvoll Gegenstände. Das ist die einzige Verbindung zu unseren ermordeten Vorfahren. Deshalb hat es für uns zentrale Bedeutung, das Gebäude, durch das schon unsere Vorfahren gegangen sind, das sie errichtet haben und das ein stolzer Bestandteil dieser Stadt war, so authentisch wie möglich zu rekonstruieren, weil es uns mit der Vergangenheit vor der Nazizeit und der Shoah verbindet. Auch wenn innendrin alles anders wird. Ein Teil wird für alle zugänglich sein, mit einem Café und einer Buchhandlung, damit das Judentum für alle erlebbar wird.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.