Ein Orchester hat einen neuen Konzertmeister. Er ist jung, charmant, gut aussehend und spielt hervorragend Geige. Sonst hätte er die Stelle auch nicht bekommen, denn die Konkurrenz war groß. Er stammt aus Osteuropa und spricht bereits recht gut Deutsch. Nach zwölf Monaten, zum Ende der Probezeit, wird das Orchester darüber abstimmen, ob er die Stelle dauerhaft bekommt. Mitentscheidend sind dabei die Mehrheiten in seiner Stimmgruppe, den ersten Violinen. Die Stimmgruppe besteht aus acht Frauen und vier Männern. Mehrere Frauen haben schon ein Auge auf den neuen Kollegen geworfen. Unabhängig voneinander versuchen zwei Geigerinnen, engeren Kontakt zu ihm aufzubauen. Zunächst gibt er sich offen, weil er denkt, das sei hier offenbar so üblich. Als er merkt, dass die jungen Frauen seine Zuneigung vor allem über die Zusage gewinnen wollen, am Ende des Probejahres auf jeden Fall für ihn zu stimmen, wird er stutzig, unsicher und versucht, die engere Kontaktanbahnung zu beenden. Die beiden Frauen lassen jedoch nicht locker und setzen ihn mit dem Hinweis auf die demnächst anstehende Abstimmung weiter unter Druck. Könnten die beiden Geigerinnen Stimmung gegen ihn machen und sein Probejahr tatsächlich torpedieren? In seiner Verzweiflung und Verunsicherung wendet sich der junge Mann – er ist Gewerkschaftsmitglied – an die Rechtsabteilung von unisono, der Musikergewerkschaft. Hier findet er absolut vertrauliche Beratung, Hilfe und Unterstützung.

Dieser Fall ist nicht völlig frei erfunden. Er hat sich so ähnlich vor nicht allzu langer Zeit abgespielt. Er zeigt, dass nicht nur Frauen von Sexismus betroffen sein können. Er zeigt aber auch, dass Machtstrukturen und Abhängigkeiten nicht nur zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, sondern auch unter Kollegen eine große Rolle spielen können. Ein anderer Fall: Der Arbeitgeber eines Orchesters einigt sich mit einem Musiker, der diesem Orchester bereits über zehn Jahre als Bläser in herausgehobener Position angehört hat, im gegenseitigen Einvernehmen auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Über die Hintergründe wird ausdrücklich Stillschweigen vereinbart. Nicht nur in dem Orchester, sondern auch ansonsten in der Bläserszene erzählte man sich von diesem Musiker alle möglichen Gerüchte über »Frauengeschichten« oder über unangemessenes Verhalten gegenüber Frauen, ohne dass wirklich etwas konkret wurde. Erst als sich die Beschwerden betroffener Frauen in dem Orchester häuften – über Anzeigen oder angestrengte Strafverfahren ist nichts bekannt –, sah sich der Arbeitgeber des Orchesters offenbar gezwungen, den Musiker aus dem Orchester zu entfernen. Auch dieser Fall ist nicht völlig frei erfunden und hat sich so ähnlich abgespielt. Er passt auf den ersten Blick eher in die klassischen Muster von MeToo-Fällen. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass der Arbeitgeber, die unmittelbar Betroffenen, aber auch das gesamte Kollektiv des Orchesters bestimmte sexistische Vorgänge über viele Jahre offenbar einfach nur zur Kenntnis genommen haben.

Seit dem MeToo-Skandal um Harvey Weinstein Ende 2017 hat sich das Bewusstsein für Sexismus und sexualisierte Gewalt im Film-, Theater- und Musikgeschäft massiv gewandelt. Das war überfällig. Und die Dunkelziffern blieben hoch, weil Betroffene und Beteiligte immer noch Scheu und Scham entwickeln, inakzeptable Vorgänge ans Licht zu bringen. Das deutsche Orchester der 1960er Jahre war eine klassische Männergesellschaft. Diese reagierte gegenüber immer mehr Frauen im Orchester extrem feindlich und sexistisch, wie man in Schriften aus dieser Zeit nachlesen kann. Altherrenwitze inklusive. Damals galt das als normal und gesellschaftsfähig. Und heute? Das Bewusstsein über partnerschaftlichen Umgang am Arbeitsplatz ist auch in Orchestern und Rundfunkensembles deutlich gewachsen. Auch die paternalistisch und archaisch anmutenden Führungsstrukturen quasi allmächtiger älterer männlicher Chefdirigenten gehören inzwischen der Vergangenheit an. Ein neuer, eher kollegialer Führungsstil wirkt natürlich auch verstärkt in die Orchester hinein. Der durchschnittliche Frauenanteil in den Orchestern liegt schon jetzt bei über 40 Prozent und wird bis ca. 2030 auf rund 50 Prozent ansteigen. Gleichzeitig steigen auch die Zahlen von Orchestermitgliedern nichtdeutscher Herkunft von derzeit ca. 30 Prozent weiter an. Diese parallelen Entwicklungen verändern auch das soziale Miteinander im Orchester, welches als Kollektiv schon speziell ist; arbeitet man doch auf sehr engem Raum intensiv am gemeinsamen künstlerischen Erfolg.

Die besondere Nähe untereinander am Pult, in der Stimmgruppe, im gesamten Kollektiv ist dabei Chance und Risiko zugleich. Grenzüberschreitungen bleiben meist Einzelfälle; das wissen auch die Juristinnen und Juristen aus der unisono-Rechtabteilung zu berichten. Das Erkennen sexualisierter Gewalt in Orchester- und Theaterbetrieben bedarf aber von Arbeitnehmer- wie von Arbeitgeberseite noch höherer Sensibilisierung und Aufmerksamkeit. Und es bedarf klarer Strukturen, Zuständigkeiten und Abläufe bei erkannten Missständen. Leitfäden und Dienstvereinbarungen zum partnerschaftlichen und fairen Umgang am Arbeitsplatz sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben werden, wenn es nicht gelingt, ein grundsätzliches Problembewussten gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt im Orchester- und Theaterbetrieb immer wieder neu zu verankern. Hier bleibt noch einiges zu tun.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.