»Bitte nicht stören. Das ist unser Job.« So lautet ein Credo der Künstlerhäuser Worpswede. Die in den 1970er Jahren gegründete Stipendienstätte, eine der ältesten in Deutschland, liegt am Rand des selbsternannten »Künstlerdorfs«.

Wer heute über den Weyerberg spaziert, stößt früher oder später auf ein 17 Meter hohes Monument von 1922: den Niedersachsenstein. In der einzigen Großplastik im expressionistischen Stil streckt ein stilisierter Adler seine Schwingen gen Himmel. Der Bildhauer Bernhard Hoetger, der Worpswede baulich prägte wie kein Zweiter, wollte mit dem Denkmal der Gefallenen des Ersten Weltkriegs gedenken – oder, wie die taz einmal sarkastisch schrieb, »das völkische Wiedererwachen Deutschlands 1922 herbeimauern«.

Die Botschaft des Ziegel-Kolosses liegt bis heute im Auge des/der Betrachtenden. Das Gute ist jedoch: An der umstrittenen Plastik kommt es hin und wieder zu kreativen Interventionen. So geschehen während der Pandemie, als Berliner Künstlerinnen und Künstler – zu Gast in der Stipendienstätte – Äste sammelten und daraus ein Nest am Boden für den steinernen Adler flochten. Ohne Auftrag oder Genehmigung. Das Gelege wirkte wie eine arttypische Einladung an den »König der Lüfte«, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Zugleich imaginierte es einen schützenden Ort für den heute meist prekär arbeitenden künstlerischen Nachwuchs. Über dem Flügel installierten sie eine gelbe Gummihand, die den Beutegreifer am Abheben hindern, ihn sanft erinnern sollte: Komm runter ins Nest.

Inzwischen ist mit der Pandemie auch das Nest verschwunden. Die Stiftung Worpswede will das marode Denkmal für mindestens 750.000 Euro in den Originalzustand versetzen. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Monument ist bislang nicht geplant. Vielleicht aus Sorge, der oder die durchschnittliche Worpswede-Tourist/-in könne sich durch zu viele Denkanstöße gestört fühlen?

Die Intervention zeigte jedenfalls: Zeitgenössische Kunst ringt in Worpswede mit dem ruralen Raum. Doch wohin soll sich Kulturförderung im ländlichen Raum wenden? Der Tourismus setzt auf konsumierbare Erinnerungskultur und bedient die Klassiker des »Künstlerdorfs«. Der Barkenhoff, einst Ort der Auseinandersetzung, wirkt heute wohltemperiert. Museen, Cafés und Werbefilme wie »Aus dem Leben eines Träumers« über Heinrich Vogeler dominieren das Bild. Themenausstellungen tragen Allerwelttitel wie »Zwischen den Welten« oder gar »Zeitenwende«.

Immerhin durfte – dank eines 2023 erstmals gemeinsam von Künstlerhäusern und Museumsverbund vergebenen Stipendiums – die Künstlerin Julia Kiehlmann einen besonderen »Stuhlkreis« einrichten. Mit Arbeiten wie »Sore/More« oder dem Flechten von Eichenlaubkränzen leistete sie stille Verstörungsarbeit. Über die Rotunde der »großen Kunstschau« im Hoetger-Bau spannte sie eine textile Mahnung: »Unter jedem Dach ein Ach.« Auch unter dem der Kunst.

Die Debatte über das koloniale und nationaldeutsche Erbe Hoetgers wurde von den Museen wenig progressiv geführt – und bewegte den Ort kaum. Die Künstlerhäuser hingegen wollen ein Ort für genau solche Aushandlungsprozesse sein: verankert im ruralen Raum und zugleich in Verbindung mit urbanen Zentren.

Auch 2024 gab es ein gemeinsames Stipendium. Die deutsch-iranische Künstlerin Anahita Razmi war drei Monate in den Atelierhäusern und wird in der Jubiläumsausstellung zum 150. Geburtstag Paula Modersohn-Beckers vertreten sein. Eines ihrer bekannteren Werke: »NO NATIONAL FLAG USES A GRADIENT«.

Zeitgenössische Kunst eingebettet in traditionelle Museumsarbeit – ein bewusster Verstörungsversuch? Oder die Koexistenz zweier unvereinbarer Welten? Denn nicht nur die Museen, auch die Künstlerhäuser haben ihre Traditionen. Sie holen mit verschiedenen Stipendien zeitgenössische Kunst aller Sparten nach Worpswede. Ihre Ausrichtung ist divers – in Format und Inhalt.

Das Spektrum reicht vom Landesstipendium des niedersächsischen Ministeriums bis zu Kurzzeitstipendien mit dem Bremer Verband Bildender Künstlerinnen und Künstler. Auch mit Hochschulen wird kooperiert, etwa mit der Burg Giebichenstein in Halle über das Alumni-Stipendium.

Die Stipendiatinnen und Stipendiaten – meist aus urbanem Umfeld – atmen hier spürbar auf. Viele kommen gerne wieder. Doch die Fragen bleiben: Welche künstlerischen Praktiken braucht ein Ort wie Worpswede, wenn er kein Museumsdorf werden will? Wie entsteht eine solidarische, kollektive Atmosphäre, die kreatives Schaffen aus den Ateliers ins Dorf wuchern lässt? Welche Freiräume sind dafür nötig – jenseits der Stipendienstätte? Wie kann sich der ländliche Raum durch temporäre Gäste aus den Städten bereichern – und zu einem neuen ruralen Ort werden, der mehr Offenheit und weniger Kleingeist kultiviert?

Diese Fragen – und viele mehr – werden in den Künstlerhäusern gemeinsam mit lokalen Akteurinnen und Akteuren sowie externen Expertinnen und Experten verhandelt. Aktuell entwickeln sie zusammen mit »raumlaborberlin« Konzepte für eine »Stipendienstätte der Zukunft«.

Wie sagte kürzlich der ehemalige Stipendiat und Schweizer Künstler Beat Gipp nach einem Besuch in den dringend renovierungsbedürftigen Ateliers: »Die interessantesten Orte sind unsicher.«

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2025.