Echte Vögel zwitschern – sie sitzen rundum auf den Ästen und Zweigen von Ahorn, Eiche und Tanne, klammern sich an die Rinde der Stämme oder hüpfen aufgeregt – wie die Spatzen – durch Buchenhecken und auf Laubhaufen. Eichelhäher und Specht gesellen sich dazu. Nachbars Katzen beobachten das lebendige Treiben in den Wipfeln gespannt, besonders wenn sich ihnen die gefiederten Saurier fast zum Greifen nähern. Im Hintergrund grollt die Meeresbrandung.
Wenn ich von meiner Arbeit aufschaue, habe ich durch die offene Ateliertür einen Blick auf die ganze Szenerie. Ich sitze in meinem »Reinraum« am Computer für die CAD-Zeichnungen, den 3D-Druck und sämtliche sonstigen Büroarbeiten. Im Nachbarraum weiter hinten befindet sich die Werkstatt »für alles Grobe« wie Schleifen, Schneiden, Bohren von Holz, Metall, Pappe usw., Streichen, Drucken und Bearbeitungen vielerlei Art. Wenn ich nicht unterwegs bin, ist hier in der Mittelstadt mein Raum für Konzepte, künstlerisches Arbeiten, für die Lagerung der kleineren Kunstwerke – und das im ländlich geprägten Speckgürtel einer Großstadt mit einem Bonus der Extraklasse für Mobilität: Glasfaserkabel, direkter Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr inklusive Fernverkehr-Schienenkreuz in 20 Minuten Stadtbahn-Entfernung, Autobahnanschluss in alle vier Himmelsrichtungen, Flughafen in 5 Kilometer Luftlinie und von dort z. B. 1:45 Stunden bis London Heathrow. Letzteres ist für mich zwar nur selten interessant, da ich möglichst auf der Schiene reise. Aber für meine Netzwerke muss ich mich auf den Weg machen, so oder so mobil sein: auf digitalen Plattformen und Online-Formaten oder ganz analog mit den üblichen Verkehrsmitteln. Zusätzlich habe ich mir 350 Kilometer entfernt in einer dörflichen Kleinstadt ein (größeres) Archiv für verpackte Kunstwerke, Arbeitsmaterialien und Aktenordner eingerichtet. Dort fährt der Bus vom 10 Kilometer entfernten Bahnhof tagsüber höchstens stündlich, nachts verkehrt er nicht. Mit dem Taxi geht es dann – manchmal. Die Bürgermeisterin – bei ihrem Amtsantritt vor 20 Jahren eine der jüngsten in Deutschland – trägt kulturelle Tradition aus der Kleinstadt in die Welt und Kultur aus der Großstadt/Welt in die Gemeinde, die aus zwei Handvoll kleiner Dörfer besteht: neue Brunnenskulptur und Bodenmosaik mit Dorfreliefs auf dem Marktplatz, Zusammenarbeit mit regional ansässigen Künstlerinnen und Künstlern, Museum mit stadtgeschichtlicher und lebensweltlicher Ausstellung mit regelmäßigem Verkauf kalter Köstlichkeiten einer lokalen Eismanufaktur. Kooperationen mit Kunsthochschulen aus den Großstädten, EU-Förderung für die Stadtentwicklung. Im landwirtschaftlich geprägten Umfeld werden historisch gewachsene, zwischenzeitlich unterbrochene regionale Besonderheiten wieder aufgegriffen und neu weiterentwickelt: der Wochenmarkt auf dem Marktplatz, das Erntedankfest, das hier »Krautfest« heißt, die jährliche »Kellernacht« durch die Gewölbe, die in der Kleinstadtgeschichte in vielen Privathäusern als Speicher und Schutzräume in den Lehm gegraben und nun temporär öffentlich zugänglich gemacht und gefeiert werden. Eine überregional agierende Back-Manufaktur und eine Fleisch-Manufaktur gründeten sich im Ort und versprechen handwerklich hochwertige Produktion und Produkte mit regionaler Identität. Dazu mehrere jahreszeitliche Festivitäten … Für eine dörflich geprägte Kleinstadt aus vielen kleinen Ortschaften mit zusammen unter 5.000 Einwohnern ist das (und weiteres hier Ungenanntes) nicht ganz schlecht. In den (noch) andauernden Zeiten der Landflucht in die (Groß-)Städte zeigen sich hier Ansätze für eine kulturelle Situierung, die Lebensqualität mit guten (Produktions-)Bedingungen zu verbinden suchen und Schritt für Schritt auch die Integration von künstlerischen Arbeitsmöglichkeiten erleichtern.
Jede Ateliernutzung hat ihren Preis – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Alle Haushalte ohne eine eigene Immobilie, also etwa die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland, sind vom Mietmarkt abhängig. Mietkostenzuschüsse zu Künstler-Ateliers gibt es höchstens in der Großstadt, und die Kosten unterscheiden sich in der Mittelstadt mit knapp 60.000 Einwohnern kaum vom Stadtzentrum einer Großstadt.
Ganz gleich ob im ländlichen Raum oder in einer beliebigen Stadt: Eingebunden in die regionalen Netzwerke zählen die kurzen Wege zu anderen Kultur-Akteuren, zu den gesellschaftlichen Akteuren im Gemeinwesen, in die – regionale – Wirtschaft. Ein stabiles, wertschätzendes Netzwerk zu den Menschen vor Ort und überregional ist Wegbereiter, Türöffner und Fundament für praktikable Kunstarbeits- und Einkommensbedingungen. Erst positive, zugewandte Kooperation und Austausch schaffen Möglichkeiten und Kunstgelegenheiten. Der 24/7 ununterbrochen dröhnende Autobahnverkehr erzeugt die wohlige Sinnestäuschung einer entfernt donnernden Meeresbrandung.