Am 2. September 2018 spielte der israelische Radiosender »Kan Kol Hamusica« Ausschnitte aus Richard Wagners »Götterdämmerung« in seinem Programm. Ein Tabubruch in einem Land, in dem viele, nicht nur Überlebende der Shoa, Wagner eher als musikalischen Wegbereiter des Faschismus begreifen denn als beliebten Opernkomponisten. Nach Protesten entschuldigte sich der Sender und erklärte, das öffentliche Ausstrahlen der Musik hätte gegen interne Richtlinien verstoßen und gehe auf eine Fehleinschätzung des zuständigen Musikredakteurs zurück. Selten wird so direkt über die Grenzen der Kunstfreiheit gesprochen – und selten ist sich die öffentliche Debatte dabei so einig über den Verlauf dieser Grenzen.

Die deutsche Gesellschaft diskutiert seit einiger Zeit ebenfalls über die Grenzen der Kunstfreiheit, verstärkt im Zuge antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober 2023. Oft geht es dabei um eine Vereinheitlichung und Verdeutlichung von Regeln, um Bedingungen für Förderzusagen öffentlicher Gelder, um Überprüfung der Kulturinstitutionen von außen, kurz: um Beschränkung eben jener Freiheit, die zu schützen die artikulierte Motivation dieser Überlegungen ist. Aus den bisher vorgebrachten Vorschlägen, ob es nun um den gescheiterten Versuch geht, Förderungen an Bekenntnisse zu Diversität und gegen Antisemitismus zu koppeln, oder die Idee, den Verfassungsschutz künftig bei der Entscheidung über die Förderfähigkeit von Kunstschaffenden zu involvieren, spricht, bewusst oder unbewusst, ein merkwürdiges Misstrauen – sowohl gegenüber der Freiheit der Kunst als auch gegenüber unserer Reife als Gesellschaft, mit den Chancen und Risiken des Uneindeutigen umzugehen. Dabei haben wir, trotz klar antisemitischer Vorfälle im Kunstbetrieb, derzeit keine Krise der Kunst, sondern eine Krise des öffentlichen Diskurses. Niemand kann die Frage »Was müssen wir als Gesellschaft an künstlerischen Grenzüberschreitungen aushalten?« allein beantworten. Dafür braucht es einen gesellschaftlichen Diskurs. Anstelle der Ansicht »Diese Haltung darf nicht gezeigt/gesagt/vertreten werden« sollte häufiger die Frage »Warum findest du es, anders als ich, richtig, diese Haltung zu zeigen/auszusprechen/zu vertreten?« der Ausgangspunkt der Debatte sein. Wer versucht, die Debatte durch rechtliche Vorgaben (bisweilen unterhalb von Gesetzen) obsolet zu machen, schafft keine Sicherheit, sondern erstickt den Diskurs. Freiheit mutet uns zu, Unaushaltbares aushalten zu müssen – aber gibt uns zugleich die Möglichkeit zum Widerspruch.

»Wer also meint, bestimmte Gesprächsinhalte sollten zum Schutz vor Verletzungen der anderen nicht mehr öffentlich zur Sprache kommen dürfen, müsste hierzu zunächst einen entsprechenden Diskurs anstoßen – und ihn gerade nicht durch Boykott und Ausschluss im Keim ersticken«, schreibt die Jura-Professorin Frauke Rostalski in ihrem Buch »Die vulnerable Gesellschaft«, das auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Sachbuchpreises stand: »Manch einer mag dies als Zumutung empfinden. Es handelt sich dabei allerdings um eine Zumutung, die die Demokratie den Bürgern auferlegt.«

Erst solche Debatten bringen uns als Gesellschaft weiter. Bloße Meinungsäußerungen ohne Kontextualisierung und Reflexion führen nirgendwo hin. »Jeder kann seine eigene Meinung dazu haben« bleibt eine leere Phrase, wenn sie nicht lediglich als Ausgangspunkt für eine Debatte dient und in letzter Instanz zu einer gesellschaftlichen Entscheidung führt: »Das halten wir aus« oder »Das nicht mehr«.

Raushalten und bloß von der Seitenlinie kommentieren, funktioniert ohnehin nicht: »Jetzt dürfte klar sein: Die Zuschauer sind nicht in Sicherheit«, singt Bernd Begemann 2024 in seinem Song »Es hat einen Vorfall gegeben«. Er hat Recht: Publikum sein schützt nicht davor, die Konsequenzen des Handelns der anderen mittragen zu müssen. Weil das so ist, sollten wir uns also lieber selbst einmischen. Das kann anstrengend sein, gerade wenn es um solche grundlegenden Fragen wie jene nach Kunst- und Meinungsfreiheit geht. Aber es ist, in einem Wort, das ich sonst vermeide, alternativlos bzw. ist die Alternative die Aufgabe unserer liberalen demokratischen Grundordnung.

Das eingangs erwähnte Beispiel aus Israel ist auch Thema im Song »Kanye in Bayreuth« der Band Kettcar. Marcus Wiebusch beschreibt die Szene und singt dann: »Ein Volk hat sich entschieden, mal nicht zu trennen – Nein, Werk und Autor bleiben jetzt mal schön beisammen«. Interessant ist für mich nicht primär, wie diese Entscheidung zu bewerten ist, ob sie Wagner Unrecht tut oder andere Gesellschaften, auch unsere, einfach nicht sensibel genug sind, sondern die Wahrnehmung, dass hier »ein Volk entschieden hat«. Dass es eine Entscheidung ist, in diesem Fall die Kunstfreiheit einzuschränken. Kein moralisch zwingendes Gebot und erst recht kein Verstoß gegen eine juristische Regelung, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Debatte. Neue Paragrafen können das nicht ersetzen. Kunst wird immer provozieren und Grenzen ausloten – dem begegnen wir am besten, wenn wir das tun, wozu die Künste einladen: sich mit ihnen auseinanderzusetzen und selber Position beziehen. Das sollten wir uns in einer liberalen Gesellschaft nicht abnehmen lassen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.