1997 bestellte mich der damalige Präsident des Deutschen Kulturrates, Staatsintendant August Ever-ding, zum Einstellungsgespräch als neuer Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates ins Prinzregententheater nach München. Sinngemäß sagte er mir damals: Sie dürfen als Geschäftsführer alles machen, nur eines nicht, der Kulturrat darf nie zu einer Art Reichskulturkammer werden und Künstler kontrollieren und schikanieren. Die Schrecken der Nazibarbarei waren für Kulturmenschen wie August Everding noch nah. Ich habe diese Mahnung nie vergessen und jetzt, in Zeiten, in denen die Kunstfreiheit in vielen, auch europäischen, Ländern abgebaut wird, zeigt sich, dass wir nicht aufhören dürfen, wachsam zu sein.

Vor gut 105 Jahren wurde in der im Juli 1919 verabschiedeten Weimarer Verfassung in Deutschland erstmals die Kunstfreiheit in der Verfassung verankert. In Artikel 118 der Weimarer Verfassung steht: »Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht. Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.« Nach Jahrhunderten der Repression insbesondere von Literatinnen und Literaten, der staatlichen Zensur, die dazu führte, dass Künstlerinnen und Künstler das Land verließen und im Exil lebten, war die Verankerung der Kunstfreiheit in der Weimarer Verfassung ein wesentlicher Befreiungsschritt. Allerdings wurde in dem Gesetz festgelegt, dass für die neue Kunstform Kino abweichende Regeln getroffen werden können und zum Jugendschutz gesetzliche Maßnahmen zur Einschränkung der Kunstfreiheit möglich sind. Bemerkenswert ist die Möglichkeit, die zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur eingeräumt wurde.

Die Weimarer Republik garantierte aber nicht nur die Freiheit der Kunst, sie war auch eine geschichtliche Epoche, in der sich besonders Künstlerinnen und Künstler für eine freie Gesellschaft, für die Demokratie und die Republik eingesetzt haben.

Dieser Aufbruch fand ein jähes Ende nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933. Gleich in den ersten Monaten des NS-Regimes mussten Künstlerinnen und Künstler, die sich für die Demokratie einsetzten, ihre öffentlichen Ämter räumen, teils wurden sie inhaftiert, teils flüchteten sie aus Deutschland. Im Mai 1933 wurden die Bücher unliebsamer Autorinnen und Autoren auf dem Berliner Opernplatz und an vielen anderen Orten im Deutschen Reich verbrannt. Am 22. September 1933 wurde die Reichskulturkammer unter Vorsitz von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gegründet. Die Kunst und vor allem die Kunstschaffenden wurden fortan gleichgeschaltet. Künstlerinnen und Künstler, die während der NS-Zeit auftreten, ausstellen oder veröffentlichen wollten, mussten sich der Gleichschaltung unterwerfen. Am 10. Oktober 1945 wurde die Reichskulturkammer durch den Alliierten Kontrollrat verboten und ihr Eigentum beschlagnahmt.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist seit 1949 in Artikel 5 formuliert: »(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« Hier wird die Kunstfreiheit normiert.

In Absatz 3 des Artikel 5 wird klargestellt, dass die Freiheit der Lehre dahingehend eingeschränkt wird, dass die Treue zur Verfassung gegeben sein muss. Diese Anforderung wird an die Kunst explizit nicht gestellt. Was Kunst ist, bestimmt der Diskurs der Kunst selbst. In den Landesverfassungen sind ähnliche Formulierungen, teilweise verbunden mit der Zusage des Schutzes und der Förderung der Kultur, zu finden. In der Bayerischen Verfassung wird interessanterweise die Aussage zur Bekämpfung von Schund und Schmutz aus der Weimarer Verfassung wieder aufgegriffen. So steht in der Bayerischen Verfassung in Artikel 110 in Absatz 1 zwar unter anderem einerseits: »Jeder Bewohner Bayerns hat das Recht, seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.« Andererseits ist in Absatz 2 zu lesen: »Die Bekämpfung von Schmutz und Schund ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden.« Dies ist eine bayerische Besonderheit.

In der Verfassung der DDR aus dem Jahr 1949 stand unter Artikel 34 »(1) Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. (2) Der Staat nimmt an ihrer Pflege teil und gewährt ihnen Schutz, insbesondere gegen den Mißbrauch für Zwecke, die den Bestimmungen und dem Geist der Verfassung widersprechen.« In der DDR-Verfassung von 1968 ist zwar noch von der Gewährleistung der Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens (Artikel 27, Absatz 2) die Rede, die Kunstfreiheit taucht aber nicht mehr explizit auf. Vielmehr wird in Artikel 25, Absatz 3 auf die Teilhabe am kulturellen Leben der Bürger eingegangen. In der Verfassung von 1974 ist Artikel 25, Absatz 3 unverändert. In Artikel 18 wird formuliert: »(1) Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft dient. Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegführung und der Herabwürdigung des Menschen dient. Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen, pflegt alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes. (2) Die Förderung der Künste, der künstlerischen Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen und die Verbreitung künstlerischer Werke und Leistungen sind Obliegenheiten des Staates und aller gesellschaftlichen Kräfte. Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes.« D. h. in der Verfassung der DDR wurde seit 1968 das Augenmerk auf die kulturelle Teilhabe und nicht auf die Freiheit der Kunst gelegt. In der Geschichte der DDR finden sich zahlreiche Beispiele, wie Künstlerinnen und Künstler, die gegen die Gängelung des Staats aufbegehrt haben, nicht ausstellen, publizieren oder auftreten durften und sogar inhaftiert und ausgewiesen wurden.

Die Freiheit der Kunst ist also kein angestammtes Recht und erst recht kein bereits seit Langem bestehendes Verfassungsgut. Die verfassungsrechtlich verankerte Kunstfreiheit schützt die Künstlerinnen und Künstler vor Zensur und vor staatlichen Zugriffen bis hin zu Verboten. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es nur sehr wenige bekannte Fälle, in denen die Freiheit der Kunst gegen andere Rechtsgüter abgewogen wurde. Bekanntheit haben vor allem die Auseinandersetzung um den Roman »Mephisto« von Klaus Mann sowie den Roman »Esra« von Maxim Biller erfahren. In beiden Fällen kam es zu höchstrichterlichen Entscheidungen.

Kunstfreiheit heißt auch, dass Werke scheußlich, irritierend oder geschmacklos sein können. Das heißt eben auch, dass »Schmutz und Schund« durch die Kunstfreiheit geschützt wird. Es sei denn, dass ein Werk gegen den Jugendschutz verstößt und damit nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden darf.

Es gab immer Diskussionen um Kunstfreiheit. Debattiert wurde und wird, ob aus Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle die Kunstfreiheit eingeschränkt werden sollte. Diskutiert wird der Eingriff in Werke, weil sich Menschen durch bestehende Formulierungen verletzt fühlen könnten. Wir streiten darüber, inwiefern angesichts einer diversen Gesellschaft Werke aus früheren Jahrhunderten umgeschrieben werden müssten. Aktuell setzt sich der Musiker Danger Dan in seinem Song »Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt« künstlerisch mit der Frage auseinander, was alles zur Kunstfreiheit gehört und ob es doch Grenzen gibt.

Aktuell findet eine teils sehr erregte Diskussion darüber statt, inwiefern an die Förderung von künstlerischen Projekten und Kultureinrichtungen besondere Anforderungen gelegt werden dürfen, damit mit öffentlichen Mitteln keine antisemitische Kunst gefördert wird. Der Deutsche Kulturrat hat sich gerade deutlich dafür ausgesprochen, die Freiheit der Kunst zu sichern und gleichzeitig Antisemitismus und Rassismus im Kulturbereich entschieden zu bekämpfen! Zwischen Kunstfreiheit und dem Eintreten gegen Antisemitismus und Rassismus besteht kein Widerspruch. Es sind keine Rechtsgüter, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Im Gegenteil, die Aufgabe einer demokratischen Gesellschaft besteht darin, die Freiheit der Kunst ohne Wenn und Aber zu sichern und gleichzeitig Antisemitismus, Rassismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entschieden entgegenzutreten.

Ganz im Sinne von August Everding.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.