Das Verhältnis von Kunst und Politik ist komplex und spannungsgeladen. Auf der einen Seite steht die Kunst als kritisches Medium, das gesellschaftliche Verhältnisse reflektiert. Auf der anderen Seite droht ihre Instrumentalisierung durch politische Akteurinnen und Akteure. In Europa zeigt sich in Ländern wie Ungarn oder zunehmend auch in Italien die Gefahr, wie durch politische Eingriffe in die Kultur die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Gesellschaft geschwächt werden kann. Diese besorgniserregenden Entwicklungen sollten als Warnung dienen: Politische Versuche, die Kunstfreiheit einzuschränken, wie sie derzeit auch in Deutschland diskutiert werden, können zu ähnlichen negativen Auswirkungen führen.

Kunst kann nur dann ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen, etwa Missstände aufdecken, soziale Ungerechtigkeiten thematisieren und Diskurse für gesellschaftlichen Wandel anstoßen, wenn sie unabhängig bleibt und ihre eigene Sprache findet. Das kann sie durch Widerspruch und Provokation, das Ausloten und Überschreiten von Grenzen, durch Empathie und kritische Reflexion, aber auch durch scheinbar eskapistisch anmutende Ausflüge und zunächst zweckfreie Arbeit.

Ohne diese Autonomie besteht die Gefahr, dass politische Akteurinnen und Akteure Kunst und Kultur für ihre eigenen Zwecke vereinnahmen. Diese Politisierung und Instrumentalisierung der Kunst können dazu führen, dass künstlerische Ausdrucksformen und Inhalte gesteuert werden, um bestimmte politische Narrative zu illustrieren oder oppositionelle Stimmen zu unterdrücken. Kunst wird so zu einem Werkzeug der Macht und ihre Fähigkeit, kritisch auf die Realität zu reagieren, stark eingeschränkt.

Gleichzeitig erleben wir, dass Politik zunehmend durch symbolische Gesten geprägt wird. Konflikte werden auf kulturelle Fragen reduziert, anstatt sie als politische Themen zu behandeln. Die Kulturalisierung der Politik führt dazu, dass der eigentliche politische Handlungsbedarf verschleiert wird. Ein aktuelles Beispiel ist der Konflikt um den Umgang mit Antisemitismus und der Kritik an Israels Politik. Dieser betrifft auch die Kunstwelt, da der Nahostkonflikt eines der großen Themen unserer Zeit ist und viele Künstlerinnen und Künstler, besonders aus jüdischen und arabischen Gemeinschaften, persönlich berührt. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem über 1.200 Menschen getötet und Hunderte entführt wurden, und der folgenden, von der Hamas bewusst einkalkulierten harten Reaktion Israels, die bisher an die 40.000 zivile Opfer forderte und Hunderttausende obdachlos machte, gab es weltweit Solidaritätsbekundungen für beide Seiten. Unterdessen nahmen antisemitische Einstellungen und judenfeindliche Straftaten zu, auch in jenen Kreisen, die eigentlich für Weltoffenheit und Antidiskriminierung stehen.

Es ist eine historische Tatsache, dass der Antisemitismus als falsches Bewusstsein in allen politischen Lagern zu Hause ist. Antisemitismus ist keine exklusiv rechte Ideologie, sondern genauso anschlussfähig für linke, liberale, dekoloniale und progressive Milieus. Gerade diese Wandlungsfähigkeit und kontextuelle Vielfalt macht ihn so langlebig und so gefährlich. Die Gefahr anzuerkennen und immer wieder selbstkritisch und selbstverantwortlich das eigene Umfeld aufzuklären, gehört zur Aufgabe jeder Generation. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die politische Kritik an den Handlungsweisen der aktuellen israelischen Regierung und ihrer Art der Kriegsführung die Kritikerinnen und Kritiker nicht automatisch zu Antisemiten macht, insbesondere wenn diese Kritik nicht auf das Existenzrecht Israels abzielt und Bestandteil der demokratischen Auseinandersetzung der israelischen Gesellschaft ist.

Wir müssen jedoch feststellen, dass sich unter die Solidarisierung von Teilen der Linken, der Kulturszene oder der arabisch-muslimischen Diaspora mit dem palästinensischen Anliegen und dem Anerkennen des Leids der palästinensischen Bevölkerung auch antisemitische Argumente gemischt haben. Diesem israelbezogenen Antisemitismus müssen die jeweiligen Gemeinschaften selbstkritisch durch Aufklärung, Sensibilisierung und Maßnahmen gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit begegnen. Dabei kommt den Kulturinstitutionen eine besondere Aufgabe zu. Es wäre jedoch falsch, den Antisemitismus zu einem woken Problem zu machen. Auch haben wir es nicht mit einem importierten Problem zu tun, wie gerade von rechter Seite insinuiert wird: Wahlweise seien die zugewanderte arabische Diaspora, die woke Linke, der Islam oder gar die kritische jüdische Diaspora Schuld am Erstarken des Antisemitismus in Deutschland. Diese Projektion dient der Entlastung und verkennt, dass laut repräsentativen Umfragen weiterhin ein Viertel der deutschen Bevölkerung antisemitische Stereotypen pflegt (s.d. Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2019).

Die extreme Rechte nutzt den aktuellen Konflikt in ihrem Kulturkampf strategisch aus. So brachte die AfD nach dem Antisemitismus-Skandal auf der documenta 15 einen Antrag in den Deutschen Bundestag ein, der erstaunliche Parallelen zur gegenwärtigen Debatte um Verschärfung von Förderrichtlinien aufweist: Die AfD sieht die Ursache für die antisemitischen Entgleisungen auf der documenta oder im Nahostkonflikt in der »postkolonialistischen Ideologie«, die »Ressentiments gegen ›Weiße‹« schüre (Deutscher Bundestag, Drucksache 20/2598, 06.07.2022). Die vom Verfassungsschutz als extremistischer Verdachtsfall eingestufte Partei verlangte, »ab sofort keine Bundesmittel für Forschungsvorhaben oder Projekte im kulturellen oder im Bildungsbereich mehr bereitzustellen, die in affirmativer Art und Weise postkolonialistische Ideologiegehalte zu vermitteln suchen und so einer weiteren kapillaren Verbreitung antisemitischen Gedankenguts im deutschen Kulturleben vorzubeugen« (ebd.).

Vor zwei Jahren hat der Bundestag diesen Antrag abgelehnt. Trotzdem hat die AfD diskursiv gewonnen: Alle anderen Parteien und die Kulturverwaltung haben inzwischen ähnliche Argumente übernommen und versuchen nun, Kunst und Wissenschaft, deren Freiheit im Grundgesetz verankert ist, durch Fördervorgaben zu steuern. Seit Monaten wird im Bundestag eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland vorbereitet. Gleichzeitig werden Klauseln gegen Antisemitismus und Diskriminierung auf allen Verwaltungsebenen diskutiert. Es klingt nach einer Selbstverständlichkeit – wer wäre nicht für den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland und gegen Antisemitismus oder Diskriminierung? Doch hinter diesen Vorhaben steckt der Versuch, die Förderung von Kunst und Kultur sowie wissenschaftlichen Forschungsprojekten an politische Gesinnungsprüfungen zu knüpfen. Das scheinbar einleuchtende Argument, keine Steuergelder für Antidemokraten auszugeben, stammt, wie das obige AfD-Zitat belegt, ironischerweise von echten Antidemokraten.

Das ist der Kontext, in dem die gegenwärtige Debatte zur Kunstfreiheit geführt wird. Während die Verabschiedung von Gesetzen und Klauseln, die einer rechtlichen Prüfung standhalten, nicht vorankommt (s.d. Lisa Berins, Frankfurter Rundschau, 21.07.2024), weil die Freiheit der Kunst in Art. 5 Abs. 3 GG aus gutem Grund ohne Gesetzesvorbehalt garantiert ist, weicht die Politik auf das Feld der Symbolpolitik aus. Denn statt gesetzlicher Regelungen will der Bundestag offenbar demnächst über die erwähnte Resolution abstimmen, die ihrem Wesen nach rechtsunverbindlich ist und als Sprechakt des Parlaments auch keiner rechtlichen Prüfung unterzogen werden muss.

Man könnte meinen, dass man sich entspannen kann, da es sich nur um Symbolpolitik handelt und die Freiheit der Kunst nicht wirklich in Gefahr ist. Doch als Künstlerinnen und Künstler wissen wir um die Wirkmacht von Symbolen. Nicht umsonst ist Symbolpolitik seit jeher ein mächtiges Instrument politischen Handelns. Sie greift tief in das kollektive Bewusstsein ein und formt die Normen und Werte einer Gesellschaft. Symbolische Gesten wirken oft subtil, aber sie haben weitreichende Folgen für das gesellschaftliche Gefüge. Das gilt auch für Parlamentsbeschlüsse, die rechtlich nicht bindend sind, wie der BDS-Beschluss von 2019. Laut dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestages haben solche Beschlüsse trotz ihrer fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit eine bedeutende politische Wirkung (s. Ausarbeitung »BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages, Drucksache 19/10191«, 21. Dezember 2020). Im kulturpolitischen Umfeld schafft diese Unverbindlichkeit Rechtsunsicherheit und Verunsicherung und kann damit zu Missbrauch und Manipulation führen.

Gewissermaßen durch die Hintertür wird hier die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Kunst als ein Maßstab einer offenen und demokratischen Gesellschaft infrage gestellt und gefährdet. Diese Freiheit umfasst nicht nur den Schutz vor staatlicher Zensur, sondern auch die Möglichkeit, künstlerische, gesellschaftliche und politische Themen offen zu erörtern. Kritische Auseinandersetzungen, auch mit politisch sensiblen und umstrittenen Themen, sind notwendiger Bestandteil einer freien Kunst. Oder wie es Patrick Bahners in der Süddeutschen Zeitung (13.08.2024) zur Debatte anmerkte: »Solche Fragen der Grenzziehung sind ihrem Wesen nach selbst Gegenstand des demokratischen Streits, zu dem Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler Ideen beitragen können, die querliegen zu den herrschenden Routinen des Denkens.«

Kunst bietet im Rahmen einer deliberativen Demokratie Raum für kritische Reflexion und Debatte, der in anderen Bereichen oft fehlt. Wenn politische Vorgaben die Kunstfreiheit einschränken, verliert die Kunst ihre essenzielle Funktion. Statt frei und unabhängig auf gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, wird sie zu einem Werkzeug politischer Propaganda. In den Händen antidemokratischer Akteure wird diese Einschränkung der Kunst, egal wie gut gemeint, zu einer Gefahr für die Demokratie selbst. Es liegt an uns allen, die Freiheit der Kunst zu verteidigen und sicherzustellen, dass sie auch in Zukunft ein hohes Gut bleibt. Nur so kann Kunst weiterhin als kritischer Spiegel der Gesellschaft wirken und Werte wie Offenheit und Demokratie fördern.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2024.